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Reisende in der Moskauer Metro-Station "Lenin-Bibliothek".

© picture alliance / dpa

Moskau-Roman von Keith Gessen: Putin, eine Großmutter und der Stalinismus

Der amerikanische Schriftsteller Keith Gessen erzählt in "Ein Schreckliches Land“ von seiner Herkunft. Es ist eine heimliche Liebeserklärung an Russland.

Der Rat, dem ihm ein Freund auf der Abschiedsparty in New York mitgab, lautete: „Lass dich nicht umbringen.“ Andrej Kaplan hatte feierlich seine Bierdose gehoben und versprochen, sich nicht umbringen zu lassen. Als er in Moskau auf dem Scheremetjewo-Flughafen ankam und einem Grenzbeamten, der in seiner lichtbeschienenen Uniform „wie ein Gott“ aussah, seinen Pass aushändigte, schoss ihm durch den Kopf, dass er nun rechtlos sei, denn „so etwas wie Recht und Gesetz gab es hier nicht“. Aber nichts war passiert und auch die Fahrt mit dem nagelneuen Schnellzug ins Stadtzentrum überstand er unbeschadet, obwohl sich der vierschrötige Mann neben ihm für sein Handy interessierte.

„Dies ist ein schreckliches Land“, sagt seine Großmutter, bei der Andrjuschik, wie sie ihn liebevoll nennt, unterkommt. „Warum bist du hier?“ Andrej ist nach Moskau gekommen, um sich um Baba Sewa zu kümmern, die fast neunzigjährige Großmutter, die vergesslich und sonderlich zu werden beginnt. Sein Bruder Dima hat ihn darum gebeten, nachdem er fluchtartig Russland verlassen musste, bedrängt von Finanzhaien, denen er mit Plänen für eine Tankstellen-Kette an der Autobahn in die Quere gekommen war.

Seine Ex weiß nicht, wo das alles hinführen soll

Außerdem hofft Andrej, ein Thema für einen Aufsatz zu finden, der ihm vielleicht einen Job verschaffen könnte. Denn nach der Promotion ist die Karriere des Literaturdozenten ins Stocken geraten, überhaupt fehlt seinem Leben jede Zukunftsperspektive. Vor kurzem hat seine Freundin in einem Starbucks mit ihm Schluss gemacht, ihre Begründung lautete: „Ich weiß einfach nicht, wo das hinführen soll.“

Keith Gessen schickt in seinem Roman „Ein schreckliches Land“ einen Helden auf eine Expedition in Putins postsowjetisches Reich, mit dem er einige biografische Züge teilt. Genau wie dieser Andrej Kaplan wurde Keith Gessen in Moskau geboren, genau wie er wanderte als Kind mit seiner jüdischen Familie in die USA aus. Als Russland-Experte schrieb er für den „New Yorker“ und veröffentlichte 2008 seinen Debütroman „All die traurigen jungen Dichter“.

Das Gefühl, sich in einer halb vertrauten Fremde auf kulturell wackligen Boden zu bewegen, wird er kennen. Bei Andrej zeigt sich diese Unsicherheit darin, dass er nicht weiß, wie er mit Russen in Kontakt kommen soll. Soll er sie höflich mit „Wy“ oder vertraulich mit „Ty“ ansprechen? Er entscheidet sich fürs Siezen und wird meist herablassend zurückgeduzt.

Die Wirtschaft brummt, dann folgt die "Krizis"

„Ein schreckliches Land“ spielt in den Jahren 2008/2009. Russland hat gerade im Kaukasuskrieg gegen Georgien gesiegt, um den Anschein demokratischer Verhältnisse zu wahren, hat Putin das Präsidentenamt an seinen Kompagnon Medwedew übergeben. Gas- und Ölpreise sind auf einem Höchststand, die Wirtschaft floriert, bis sie verspätet von der Finanzkrise eingeholt wird.

Besserer Kaffee ist so teuer, dass sich Andrej, der seinen Lebensunterhalt mit Online-Seminaren für Studenten seiner New Yorker Uni bestreitet, ihn nicht leisten kann. Weil er WLAN-Empfang benötigt, erledigt er die Arbeit in einem billigen Café am Lubjanka-Platz, das direkt gegenüber der Zentrale des ehemaligen KGB liegt. Die Statue des KGB-Gründers Felix Dserschinski ist durch einen überdimensionalen Blumenkübel ersetzt worden, der Geheimdienst heißt nun FSB. Die Führungskräfte tragen teure Anzüge und fahren teure deutsche Autos.

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Die Schrecken der Vergangenheit bleiben allgegenwärtig. Ihre Behausung nennt die Großmutter „meine Stalin-Wohnung“. Sie war der jungen Geschichtsprofessorin zuerkannt worden, weil sie als Beraterin an einem Film über Iwan den Großen mitgearbeitet hatte. Allerdings verlor sie bald darauf ihre Stelle an der Universität, als der Diktator einen „antikosmopolitischen“ – sprich: antisemitischen – Feldzug startete. Die Stalin-Wohnung gleicht einem Museum für sowjetische Möbel. Baba Sewa leidet an Einsamkeit. Die Adressen in ihrem Telefonbüchlein seien, sagt sie, „Todeslisten“. Nahezu alle Freunde sind tot oder ausgewandert.

Andrej begleitet die alte Dame bei ihren Einkaufstouren. Ihr Viertel ist radikal gentrifiziert worden, Boutiquen und Banken haben die meisten der deprimierenden Lebensmittelläden aus der Sowjetzeit ersetzt. „Überall um uns herum wurden Gebäude renoviert, erneuert, abgerissen“, schreibt Gessen. Hinter einer Ziegelsteinfassade aus dem 19. Jahrhundert kann sich der Schlund einer monströsen Baustelle auftun. Durch diese Kulissen bewegt sich die Großmutter in ihrer rosafarbenen Bluse wie ein Geist, der durch sein eigenes Leben spukt. Auf der Suche nach einem preiswerten Käse.

Für drei Dollar durch die halbe Hauptstadt

Gessen besitzt einen Sinn für Situationskomik und genaue Ortskenntnis. Fast wie ein Reiseführer nimmt Andrej, langsam seinen Bewegungsradius vergrößernd, den Leser an die Hand. Hinaus auf den gewaltigen Gartenring, der in einer zehnspurigen Schleife rund ums Zentrum mit dem Kreml als Mittelpunkt führt. Hinein in ein zerbeultes russisches Auto, das als Taxiersatz dient und seine Gäste für drei Dollar durch die halbe Stadt kutschiert. Hinab in die Metro, deren Bahnhöfe unterirdischen Palästen ähneln. Jeder Zug ist überfüllt. Da fast alle Linien strahlenförmig verlaufen, besteht nur im Zentrum die Möglichkeit, umzusteigen.

Andrej schlägt sich durch. Er besucht einen Club voller dünner, aufgedonnerter Frauen und fetter, kahler, beim Tanzen in ihre Anzüge schwitzender Männer und wird übel verprügelt. Er verliebt sich in Yulia, eine Sozialistin, die mit der Gruppe „Oktober“ subversive Aktionen plant. Er spielt Eishockey und findet in den wortkargen Mitgliedern seiner fast immer verlierenden Mannschaft Freunde. Die Spiele werden in einer Eissporthalle außerhalb des Zentrums ausgetragen. Dort scheint es, so Gessen „als habe die Zivilisation aufgehört zu existieren“. Besser gesagt: Als hätte eine andere Zivilisation, die sowjetische, wie ein eiszeitlicher Gletscher gewaltige Hochhaussiedlungen dorthin verschoben.

[Keith Gessen: Ein schreckliches Land. Roman. Aus dem Englischen von Jan Karsten. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021. 488 Seiten, 24 €]

Eigentlich findet Andrej vor allem deshalb Gefallen an den Oktobristen, weil er über sie den Text zu schreiben können glaubt, der ihm zu akademischem Ruhm verhelfen wird. Doch dann lässt er sich vom revolutionären Furor mitreißen. So schlecht kann der Kommunismus nicht gewesen sein, wenn seine Großmutter über ihn sagt: „Er war einen Versuch wert.“ Nein, der Kapitalismus darf nicht siegen in Russland, deshalb demonstriert Andrej mit seinen Genossen vor der RussOil-Konzernzentrale. Eine Donquichotterie, die im Gefängnis endet. „Ein schreckliches Land“ ist ein furioser Schelmenroman und eine heimliche Liebeserklärung: an Moskau und die Menschen, die sich in dieser „großen, hässlichen, gefährlichen“ Stadt nicht unterkriegen lassen.

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