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Der konservative Anarchist Martin Mosebach erhielt 2007 den Georg-Büchner-Preis.

©  Hagen Schnauss/Verlag

Martin Mosebachs Roman „Krass“: Jeder Schuss ein Treffer

Auf Umwegen zu erhöhter Menschenkenntnis. Martin Mosebachs Bildungsroman „Krass“ wartet mit lebenspraktischem Zynismus auf.

Wenn sich Ralph Krass ausnahmsweise ein Buch vornimmt, reißt er die gelesenen Seiten heraus und wirft sie weg. „Das Buch wird beim Lesen immer dünner.“ Mit dem neuen Roman von Martin Mosebach (Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 525 S., 25 €) sollte man das nicht tun. Der ist so gut, dass man ihn hinterher gleich nochmal lesen will. Krass ist seine Hauptfigur und Titelheld, ein voluminöser, kraftberstender Mann, ein Willensmensch, der nicht viele Worte macht, sondern seine Kontrahenten durch machtvolles Schweigen niederzwingt. Selbstzweifel kennt Krass nicht.

Es gehört zur Ironie dieses Romans eines Geschäftsmannes, dass auf 500 Seiten kaum von den Gegenständen seiner Handelstätigkeit die Rede ist. In Neapel, wo der erste von drei Teilen im Jahr 1988 spielt, treten kurz ein paar finstere Araber auf; irgendeine Rechnung für eine Panzer-Lieferung war da wohl nicht ganz korrekt. Die Koffer voller Geld verdanken sich also dem Waffenhandel. Aber hier hüllt man sich in diskretes Schweigen.

Umso akkurater liefert Mosebach die Physiognomik und das Gebärden-Repertoire eines Machtmenschen, der mehr an einen Monarchen als an die smart getrimmten Entscheider von heute erinnert. Flache Hierarchien? Nichts davon im Krass-Kreis. Hier herrscht vielmehr ein kleiner, spendabel ausgehaltener Hofstaat, in dem gedienert und geschranzt wird und allenfalls hinter dem Rücken des „Gewaltigen“ die aufgesparte Unzufriedenheit laut wird.

Wer ausscheidet, wird lebenslang Mitglied im Verein der Krass-Geschädigten. Das alles ist einerseits befremdlich und skurril. Andererseits beschleicht einen dank mancher Wiedererkennungsmomente der Verdacht, dass es solche „Hofstaaten“ dort, wo Mächtige ihre Gravitationskraft spielen lassen, häufiger gibt als es den demokratisch-teamfreudigen Anschein hat.

Wundenlecken in der französischen Provinz

Den Machtmenschen stellt Mosebach regelmäßig die leicht verkrachten Geisteswissenschaftler gegenüber; sie werden zu ihren Trabanten und arbeiten sich mit ihrer Nachdenklichkeit an ihnen ab. In „Krass“ ist es der Kunsthistoriker Dr. Jüngel. Weil es ihm an beruflicher Perspektive fehlt, heuert er bei Krass als Jüngelchen für alles an.

Komödienhaft beflissen organisiert er den Alltag des Krass-Clans in Neapel: Restaurantbesuche, Museumsvisiten, Bootsausflüge, die Besichtigung einer Ruinen-Immobilie hoch oben über einer Felswand von Capri. Jüngel soll auch die weibliche Hauptfigur Lidewine Schoonemaker engagieren. Krass wünscht sich die eigenwillig attraktive Belgierin als aufwertende Erscheinung an seiner Seite.

Der kontemplative Mittelteil des Buches besteht aus Jüngels Tagebuchaufzeichnungen. Ohne Geld hat er sich zum Wundenlecken in die französische Provinz zurückgezogen. Hier rekapituliert er seine gescheiterte Ehe. Und beschreibt seine vergeblichen Versuche, noch einmal Gehör bei Krass zu finden, der ihn mittlerweile ebenso wie Lidewine verstoßen hat. Er freundet sich mit einem alten Klosterschuster an, der ihm von seinem eigenen Liebesunglück erzählt und mit Jüngel eine Sonntagsrundfahrt zu den von ihm heiß verehrten Schankwirtinnen der Umgebung unternimmt, die im Straßengraben endet – eine fabelhafte Episode.

Aus dem Leben der Wellensittiche

Der Roman macht viele solcher Umwege, die die Welt- und Menschenkenntnis erhöhen. Auf fast jeder Seite finden sich verblüffende Beobachtungen und augenöffnende Beschreibungen. Zugleich aber ist „Krass“ an allen Weltwichtigkeiten gezielt vorbeigeschrieben. Bezeichnend dafür: Jüngels Tagebuchaufzeichnungen, in denen der Fall der Mauer mit keinem Wort erwähnt wird. Stattdessen studiert Jüngel zum Beispiel ausgiebig zwei Wellensittiche.

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Wohl noch nie ist in der deutschen Literatur das Verhalten dieser Vögel so exakt geschildert worden. Auch sonst gibt es in diesem Roman wieder viele Mosebachsche Tier-Epiphanien: ein wütender Hahn, ein sterbender Hund, eine Bachstelze, die sich von ihrem Spiegelbild narren lässt und es aufs Umschlagbild des Buches geschafft hat.

Der dritte und finale Teil spielt zwanzig Jahre später in Kairo und führt Lidewine, Jüngel und Krass in einer aberwitzigen Dramaturgie des Zufalls wieder zusammen. Seit langem inspirieren Martin Mosebach nordafrikanische Schauplätze; sein letzter großer Roman „Mogador“ spielte in Marokko; in „Die 21“ hat er die Lebensläufe der von Islamisten ermordeten koptischen Christen bis weit den Nil hinauf recherchiert. Mit souveräner Hand entwickelt er in den Kairo-Kapiteln einen phantasmagorischen Realismus – auf den Spuren des alten Ralph Krass, der nun, ruiniert und gesundheitlich schwer angeschlagen, durch die Straßen des Molochs irrt.

Im Finale Rührung, Komik und Metaphysik

Krass ist in Kairo immer noch Krass, auch wenn sein intaktes Selbstbewusstsein nun in grellem Kontrast zum Elend seiner Lebensumstände steht. Aber noch einmal nimmt er einen Menschen für sich ein, den jungen ägyptischen Rechtsanwalt Mohammed. Er ist wie Krass eine wuchtige Gestalt, mit narbigem, furchteinflößendem Gesicht. Aber gutmütig. Ganz ergeben spricht er Krass bald als „seinen Vater“ an, und er meint das nicht bloß als arabische Höflichkeitsformel. Mohammed pflegt den „Vater“ bis zu dessen Tod in einem trubeligen Armenkrankenhaus von Kairo. Rührung, Komik und Metaphysik gehen im Finale des Romans eine ungeahnte Mischung ein.

Es gibt Kritiker, die Mosebachs Romane mit dem immer gleichen Naserümpfen besprechen und den angeblich „parfümierten“ Stil beklagen. Das alles sei viel zu manieriert! Und Sofa schreibt er mit „ph“! Es scheint, dass diese Kritiker vor allem den Autor und sein Einstecktuch im Auge haben. Würden sie sich die Romane genauer anschauen, müssten ihnen auffallen, dass Mosebachs Sprache mit ihrer Schattierungskunst ein subtiles Instrumentarium ist, das gerade widrige Eindrücke vermittelt, etwa bei der Schilderung der wuchernden Stadtquartiere von Kairo.

"Wünsche, gut zu sterben!"

Es gibt Passagen von gnadenloser Treffsicherheit, jener Absatz zum Beispiel, der gegen Ende Jüngels Persönlichkeitsentwicklung rekapituliert. Nach dem Unglück der frühen Jahre ist er doch noch – als Professor für Urbanistik – in eine stabile Lage gekommen. Vor allem hat er gelernt, sich gegen die einstige Verletzlichkeit zu panzern: „Etwas Resigniertes war in seine Züge getreten.

Die Beliebigkeit seiner Ehebrüche hatte ihn gezeichnet, wobei er eine melancholische Dankbarkeit empfand, dass am Ende auch ihm die Gabe der Kälte und Rücksichtslosigkeit, nicht mehr geliebte Menschen verstoßen zu können, geschenkt worden war; auch er hatte aus dem verächtlichen Heer der Liebeskranken und Liebeskrüppel austreten dürfen und war in die Abteilung der Dreisten und Gesunden befördert worden.“ Hier hat jemand mit lebenspraktischem Zynismus das Ziel des klassischen Bildungsromans erreicht: den Ausgleich mit der Wirklichkeit.

Auch wenn der Mosebach-Ton nach dem guten, alten allwissenden Erzähler klingen mag, schmiegt sich die Perspektive doch den Figuren an und richtet sich an ihrer Wahrnehmung aus. In dieser Erzählweise ist mehr Nervosität, als es oberflächlich scheint. Es macht einen großen Reiz der Lektüre aus, dass die Sicht auf die Figuren ständig wechselt. Am illusionslosesten ist dabei die im Verborgenen lebende, bitterhart gewordene Ehefrau von Ralph Krass. Aus der Ferne verfolgt sie mit bösem Blick die Vorgänge im Krass-Kreis. Am Ende ist ihre krähende Stimme durch ein Mobiltelefon mit einem letzten Gruß an ihren Mann zu vernehmen. „In Kairo? Warum nicht. Wünsche, gut zu sterben – das können sie ihm ausrichten.“

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