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Die Installation „Adam, wo bist du?“ in der Parochialkirche bringt unterschiedliche Zeitschichten zusammen.

© Loredana Nemes

Kunstinstallation in Berlin: Wenn Identität zur Gefahr wird

Jesus, 1938: Ilana Lewitans Ausstellung „Adam, wo bist du?“ in der Berliner Parochialkirche wagt ein unerhörtes Gedankenexperiment.

Wie hoch, wie groß wirkt dieser entkernte Kirchenraum, wie zart und leicht die Objekte, die darin platziert sind: Verbandskästen auf Stelen mit kleinen Bildschirmen im Innern, im Zentrum eine Ansammlung an Stühlen, auf denen man nur teilweise Platz nehmen kann. Die Geschichten, die diese Dinge erzählen, sind alles andere als leicht.

Auch die Vernissagebesucher, die sich anlässlich der Eröffnung in der 1944 ausgebombten Kirche zwischen den Ausstellungsobjekten bewegen, scheinen klein und ähnlich. Sie sind es aber nicht. Die Gäste sind Juden, Christen, Muslime. Manche mögen ihre Religion ausüben, andere nicht. Alle haben individuelle Familiengeschichten, die sie prägen.

Die Münchner Künstlerin Ilana Lewitan ist Kind von Shoah-Überlebenden. Sie fragt in ihrer Ausstellung „Adam, wo bist du?“, wie sich Identität zusammensetzt, welche Teile wir selbst bestimmen und welche uns auferlegt werden. Sie fragt auch, wie und wann Identität lebensbedrohlich wird.

An „Adam, wo bist du?“ arbeitet Ilana Lewitan seit sieben Jahren. 1962 in München geboren, wechselte sie als Architektin in den Neunzigerjahren zur freien Kunst. Sie sei selbst erstaunt, wie sich die Situation für Juden seitdem verändert habe, sagt Lewitan.

Antisemitismus als wachsendes Problem

Als sie das Konzept zur Ausstellung erdachte, war die AfD noch nicht im Bundestag, gab es keine Flüchtlingskrise, antisemitische Diskriminierung gehörte auch damals schon zum Alltag. Aber die Zahl der Anfeindungen gegen Juden steigt, wie es die Vorfälle aus der vergangenen Woche in Leipzig und Berlin traurig belegen. Die Ausstellung kommt zur rechten Zeit.

Ilana Lewitan, die ihre Malerei als „andeutend“ beschreibt, die ihr Jüdischsein und ihre Familiengeschichte bisher nicht ins Zentrum ihres Werks stellen wollte, wird in dieser Schau, die zunächst im Ägyptischen Museum in München gastierte, sehr persönlich und direkt.

Sie kreist um Geburt und Zufall, Verantwortung und Schuld, stellt persönliche Fragen. Warum waren ihre Eltern durch ihre Herkunft extrem gefährdet, sie selbst aber blieb als nach 1945 Geborene verschont? Welche Verantwortung trägt der Mensch? Warum wird kaum darüber geredet, dass Jesus Jude war, von Römern ermordet?

Ein KZ-Häftlingsanzug am Kreuz

Spätestens beim Anblick des großen Kreuzes, an das ein fast drei Meter hoher Häftlingsanzug mit Judenstern gehängt ist, die Ärmel nach oben gestreckt, ist es in dieser Ausstellung vorbei mit der Zartheit. „Was wäre, wenn Jesus 1938 gelebt hätte?“, fragt Ilana Lewitan. Und ihre Antwort ist Jesus als KZ-Häftling. Fast fünf Meter hoch ist die Skulptur. Dass kein Leib in diesem Anzug steckt, macht sie noch eindringlicher.

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Der gelbe Stern und die gestreifte Kluft sind Symbole der Entmenschlichung. Die wirken nun zusammen mit dem Kreuz, dem christlichen Zeichen für Nächstenliebe. Symbole sind Zündstoff. Es ist nicht selbstverständlich, dass eine evangelische Kirche das Kreuz so zeigt. Die junge Pfarrerin der Parochialkirche, Corinna Zisselsberg, verweist ohne Scheu auf die braune Vergangenheit der Innenstadtgemeinde St. Petri – St. Marien.

Angela Merkel erinnerte bei ihrem Besuch am vergangenen Wochenende in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an die „immerwährende Verantwortung“ der Deutschen. Das muss nicht heißen, in Schuld zu erstarren. Es kann auch bedeuten, sich nicht vor Diskussionen zu verstecken, wie die Kirchengemeinde in Mitte zeigt.

Die Frage nach dem eigenen Standpunkt

Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wurde in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung sehr persönlich, erinnerte daran, wie Juden ab 1933 an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, äußerte seine Sorge über das Wiedererstarken antisemitischer Diskriminierung. Er spielte mit dem Ausstellungstitel, drehte und wendete die Frage „Wo bist du?“. Menschen sagen den Satz am Mobiltelefon, er ist Alltag, aber auch Ausdruck von Fürsorge und Liebe.

Auch Gott verlangte im Buch Genesis von Adam eine Standortbestimmung – jenseits räumlicher Koordinaten. Wo verortet jeder Einzelne sich in der Gesellschaft, welche Verantwortung übernimmt der Mensch? Wer wagt Zivilcourage?

Ein fiktiver „Schutzhaftbefehl“ und Kreuz in der Ausstellung „Adam, wo bist du?“.
Ein fiktiver „Schutzhaftbefehl“ und Kreuz in der Ausstellung „Adam, wo bist du?“.

© Loredana Nemes

Interessant ist die Ausstellung auch in den leisen Tönen, ohne die die provokante Jesus-Skulptur nicht funktionieren würde. Ilana Lewitan hat über die Jahre hinweg Zeitzeugen befragt, sie sprach mit Shoah-Überlebenden und Mitgliedern verschiedener Religionen.

Die Gespräche werden auf kleinen Videoscreens in aufgeklappten Verbandskästen gezeigt. Statt mit einer Biografie sind die Kästen mit symbolischen Gegenständen ausgestattet. Puppe und Koffer sind es bei der 1932 geborenen Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, die sich als Kind ohne ihre Eltern auf einem Bauernhof verstecken musste.

Beim Münchner Rabbiner Henry G. Brandt, der als ehemaliger Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wohltuend neutral über die Wahrnehmung Jesu in beiden Religionen spricht, sind Spielzeug-Militärlaster und Kippa zu sehen. Brandt diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Bei der deutschen Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, die sich als kurdische Jesidin für die Opfer von sexueller Gewalt einsetzt, sind es Mullbinden und ein Foto von Tekkals prägender Großmutter.

Reduktion auf ein Identitätsmerkmal ist gefährlich

Religion, Beruf, Familie, Erlebnisse – Identität ist ein komplexes Konstrukt, zerstörerisch wird es, wenn Menschen auf ein einziges Merkmal reduziert werden, das hebt auch der in Berlin lebende Psychologe Ahmad Mansour hervor, arabischer Israeli mit eigener Extremismuserfahrung, der 2018 mit seinem Buch „Klartext zur Integration“ polarisierte. In seinem Verbandskasten ist der Schriftzug „Hummus“ zu lesen, Leibspeise verfeindeter Völker, Israelis und Araber mögen es beide. Ilana Lewitan hat neben Mitgliedern verschiedener Glaubensrichtungen auch eine Transgender-Person und einen Blinden zu Diskriminierungserfahrungen interviewt.

All ihre Gesprächspartner:innen befragt sie auch zu ihrer Kunst. „Wie interpretieren Sie die Jesus-Skulptur?“ – „Was kann eine Ausstellung wie diese leisten?“ Dass eine Künstlerin Statements zum eigenen Schaffen abfragt, mag prätentiös erscheinen, aber die Antworten sorgen für Gedankenaustausch, der sonst nur im persönlichen Gespräch möglich wäre. Ausstellungsbesucher können so ihren Standpunkt mit dem anderer abgleichen.

[Parochialkirche, Klosterstr. 67, bis 14. 11., Di–So 11–18 Uhr. Der Tagesspiegel verlost 10 x 2 Plätze für eine Führung mit der Künstlerin am 7. 11., 11 Uhr. Bis zum 18. 10. mitmachen unter www.tagesspiegel.de/gewinnen, Stichwort „Adam“.]

Erinnerungskultur mittels Kunst

Darf und soll Kunst gesellschaftspolitisch wirken? Kann sie eine neue Form von Erinnerungskultur sein, wenn Zeitzeugen bald fehlen? In einer von Florian Illies moderierten Diskussion am Montagabend, bei der Ilana Lewitan mit Regisseurin Sherry Hormann und Cathrin Klingsöhr-Leroy, Direktorin des Franz Marc Museums, sprach, konstatierte die Runde, dass für zeitgenössische Erinnerungskultur beides notwendig sei, Bewusstsein über die eigene Identität und historisches Wissen.

Ausgrenzungserfahrungen nachvollziehbar zu machen, ist ein großes Anliegen der Ausstellung und auch der Grund für manch plakative Visualisierung. Bei der bunten Stuhlinstallation in der Kirchenmitte sind manche der Sitzgelegenheiten bequem, andere kaputt oder unerreichbar. Beim Betreten der Ausstellung bekommt jede Besucher:in einen Aufkleber, der einem der Stühle zugeordnet werden kann. Man hat sein Los gezogen. Zum Glück nur für den Moment.

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