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In Konzerten u.a. des jungen Yubal Ensembles wurden beim Publikum die Sensoren getestet. Jetzt wird auch das Streaming erforscht.

© Phil Dera PHD

Konzertforschung: Auf der Suche nach dem Aha-Effekt

Klassikkonzerte sind langweilig, finden die einen, andere sind tief bewegt. Das Projekt "Experimental Concert Research" erforscht, woran das liegt. Und Konzert-Streamings? Für die "Digital Concert Experience" werden noch Probanden gesucht.

Was geht eigentlich in uns vor, wenn wir im Konzert sitzen und Musik hören? Was löst Aha-Momente aus, Gänsehaut, Heiterkeit, Tränen, Langeweile – und warum? Zwar existieren zahlreiche neurologische und psychologische Studien darüber, wie Schallwellen das Trommelfell ins Schwingen bringen und alle Teile des Gehirns aktivieren, wie sie Neuronen befeuern, Erinnerungen und Emotionen stimulieren, warum wir Dur meist als fröhlich, Moll als melancholisch und Synkopen als verstörend empfinden. Aber wie verhält es sich in der konkreten Konzertsituation?

Konzertforschung existiert bis heute fast gar nicht, also der Versuch, nicht unter Laborbedingungen, sondern am authentischen Ort herauszufinden, was Besucherinnen und Besucher im Saal tatsächlich bewegt. Das internationale Projekt „Experimental Concert Research“ will das nun tun. Beteiligt an ECR sind das Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt/Main, die Musikphysiologen der University of York, Wahrnehmungspsychologen der Uni Bern, das Berliner Radialsystem, Experten aus vielen Ländern. Federführend: der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle, der an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen lehrt und sich mit Musikvermittlung, Kulturförderung und Besucherverhalten befasst.

Tröndle gab 2019 einen Band zur „Nichtbesucher-Forschung“ heraus, über die Gründe für das zunehmende Desinteresse an der Hochkultur. Auch leitete er eine umfassende Studie zum Erleben von Kunst in Ausstellungen, bei dem Besucher mit Datenhandschuh ins Museum geschickt wurden. Fazit: Mehr Ruhe und weniger Publikum sind dem Kunstgenuss förderlich. Und mehr Wissen verändert zwar die Rezeption, aber nicht unbedingt zum Besseren. Weniger kundige Laien erleben die Werke oft intensiver als kunsthistorisch versierte Besucher.

Den gängigen musikpsychologischen Studien steht der 49-Jährige kritisch gegenüber. Musik entfaltet im Saal oder in der Kirche im Zusammenspiel mit dem Raum und mit anderen Besuchern eine andere Wirkkraft als die Aufzeichnung eines Konzerts. Forschungssettings mit Studierenden im Uni-Labor verfremden die Ergebnisse, so Tröndle. Er warnt vor Selbstlegitimation: „Der Pädagoge ist überzeugt, die Vermittlung ist alles, der Musiker glaubt, es liegt an der Interpretation, der Komponist legt den Fokus auf das Werk, der Psychologe sagt, es ist die individuelle Prädisposition des Hörenden.“ Deshalb nun das aufwändige interdisziplinäre Projekt.

Als Grundlage für das Digital-Projekt dient u.a.. der Mitschnitt eines Konzerts von Alban Gerhardt & Friends.
Als Grundlage für das Digital-Projekt dient u.a.. der Mitschnitt eines Konzerts von Alban Gerhardt & Friends.

© Sim Canetty Clarke/Hyperion Records

Im Museum wurden Bewegungsabläufe untersucht. Im Konzert sitzt man still, die Musik kommt auf einen zu. Musikerlebnisse sind diffus, schwer zu versprachlichen und zu erinnern – trotz Datenhandschuh eine Herausforderung für die Empirie. Auch der interdisziplinäre Ansatz kann anstrengend sein, da andere Kollegen anders denken und jedes Detail diskutiert sein will. So zu forschen, das erfordert Demut, sagt Tröndle.

Und Geduld. Im Herbst, als die Corona-Lockerungen Veranstaltungen mit Abstand erlaubten, wurde im Radialsystem bei 148 Teilnehmenden zunächst das Messinstrumentarium getestet, in drei Kammerkonzerten mit Werken von Beethoven, Brahms und Brett Dean, aufgeführt von verschiedenen Ensembles, dem jungen Yubal-Ensemble und einem prominenteren Streichquintett um den Cellisten Alban Gerhardt.

Gemessen werden Herzrate, Atem, Bewegungsenergie, Gesichtsmuskelaktivität

In der nächsten Stufe sollen in zwölf Konzerten mit je 100 Teilnehmern und demselben Programm mengenweise Daten erhoben. Der Datenhandschuh misst Herzrate und Hautleitfähigkeit, auch Atmung, Bewegungsenergie und Gesichtsmuskelaktivität werden erfasst. Wesentlich ist die Synchronie, „die Frage, inwiefern das Konzert das Erleben beeinflusst und die Hörenden sich mit der Musik oder den Musikern synchronisieren“.

Bei jedem der zwölf Konzerte wird ein Parameter verändert. Die Tageszeit, die Programmdramaturgie, das Licht, die begleitende Musikvermittlung, das Ensemble, der Raum – zweiter Austragungsort ist der Pierre Boulez Saal.

Auch das Berliner Radialsystem ist am Forschungsprojekt beteiligt. Hier soll die experimentelle Konzertreihe über die Bühne gehen ...
Auch das Berliner Radialsystem ist am Forschungsprojekt beteiligt. Hier soll die experimentelle Konzertreihe über die Bühne gehen ...

© Doris Spiekermann-Klaas

... und im Pierre Boulez Saal an der Französischen Straße in Mitte.
... und im Pierre Boulez Saal an der Französischen Straße in Mitte.

© Volker Kreidler/Pierre Boulez Saal

Schließlich folgt eine qualitative Erhebung, bei der die Ursachen für die größten Messschwankungen erfragt werden, „für die ,Arousals‘ im Nervensystem“, so Tröndle. „Wir spielen den Teilnehmenden den betreffenden Moment in Ton und Bild nochmals kurz vor und erfragen, was da los war. Lag es an der Musik, an der Inszenierung, war es eine Erinnerung, erinnern sie sich überhaupt an die Stelle?“

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So lässt sich zum einen herausfinden, was den flüchtigen Moment ästhetischen Erlebens eigentlich ausmacht. Zum anderen kommt das ritualisierte Format „Klassisches Konzert“ auf den Prüfstand. Welche Rolle spielt das soziale Erleben rund um die Musik? Welche Aspekte sind zentral für die Intensität des Hörens, welche eher hinderlich? Braucht es die Konzertpause? Was macht den kriselnden Klassikbetrieb mit seinem Kernrepertoire und den standardisierten Abläufen vielleicht verlockender für Nicht-Konzertgänger?

Die Teilnehmer des 2018 gestarteten, auf fünf Jahre angelegten und mit mehreren Millionen Euro von der Volkswagen Stiftung unterstützten Projekts bleiben selbstverständlich anonym. Mit Hilfe vorab erfragter Vorkenntnisse, Vorlieben und soziographischer Daten will das Forscherteam jedoch dafür sorgen, dass die jeweiligen 100er-Gruppen möglichst ähnlich zusammengesetzt sind.

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Corona hat das ECR-Team ausgebremst; die Konzertreihe geht erst 2022 über die Bühne. Also nutzen die Forscher die Zwangspause, um sich das Streaming vorzunehmen. Das Projekt „Digital Concert Experience“ geht der Frage nach, wie auch ein virtuelles Konzert aufregend sein kann Schließlich erleben viele im Homeoffice, dass ein gestreamtes Konzert nach einem Tag vor dem Computer eher nervt. Was könnte die Attraktivität steigern? Martin Tröndle fände es fatal, wenn sich die traditionelle Konzertform im digitalen Zeitalter nicht weiterentwickeln könnte.

Als Grundlage dient ein Mitschnitt des Konzerts von Alban Gerhardt & Friends. Wieder werden Varianten mittels Sensoren getestet, wieder mit je 100 Teilnehmenden. Vorgesehen sind eine kürzere, dramaturgisch andere Version, eine mit festem Streamingtermin und der Möglichkeit, vorher und nachher mit anderen Hörerinnen und Hörerinnen online zu sprechen. Außerdem sollen Formate mit Werkstatt-Komponistengespräch, eine immersive Version mit VR-Brille und das digitale Hauskonzert getestet werden.

Was sind attraktive digitale Alternativen zum einfach nur abgefilmten Konzert?

Auf Letzteres ist Tröndle besonders gespannt. Eine ältere Dame und passionierte Konzertgängerin erzählte ihm, wie sie sich im Seniorenheim im Freundeskreis zum Streaming zusammensetzte. Sie mag es, dass man dabei einen Wein trinken und auch ein bisschen tuscheln kann. „Müssen die Besucher den Konzertort aufsuchen oder kann der Konzertort auch nach Hause kommen?“ Künftig könnten Konzertveranstalter auch Angebote für Listening-Partys präsentieren, ob für Seniorenresidenzen oder Studentenwohnheime.

Auch ohne Grundlagenforschung ist klar: Es genügt nicht, ein Konzert abzufilmen und das Video ins Netz zu stellen. Das Digitalprojekt kann dazu beitragen, interessantere Alternativen zu finden. Und im Verbund mit der ECR-Studie gibt’s den Vergleich zwischen Präsenz- und Digitalerlebnis gratis dazu. Gute Forschung, sagt Martin Tröndle, untersucht Phänomene möglichst nahe an der Realität. Das erhöht auch den Überraschungseffekt, die Chance, andere als nur erwartbare Ergebnisse zu erhalten.
Für das Projekt „Digital Concert Experience“ werden noch Probanden gesucht, sie werden aus 5000 Teilnehmern einer Vorstudie ausgewählt. Wer sich bis Ende Januar bewerben möchte, braucht sieben Minuten Zeit: Hier geht's zum Online-Fragebogen auf digital-concert-experience.org.

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