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Venedigs Pracht: Garten am Canale Grande.

© imago images

Kolumne Zimmerreisen (10): Blühendes Bollwerk

Auch in den eigenen vier Wänden können sich Welten auftun. Wir bleiben zu Hause – und lassen uns das Reisen nicht nehmen. Diesmal: Erinnerung an eine große Venezianerin.

Rechts vom Schreibtisch stehen die großformatigen Venedigbücher im Regal, in denen Bilder von kaum fassbarer Anmut schlummern. Sie führen dort ein Leben im Verborgenen, weil Stöße von irgendwann noch zu lesenden Zeitungen die breiten Buchrücken zuverlässig allen Seitenblicken entziehen.

Doch im ersten Lockdown schmolzen die Stapel, während wundersame Fotos von Venedig kursierten, das plötzlich von der Geißel des Massentourismus erlöst schien. Einheimische Menschen und Tiere nahmen ihre Stadt in der Lagune wieder in Besitz, soweit sich diese fragile Schönheit überhaupt in Besitz nehmen lässt.

Von den wieder zum Vorschein gekommenen Büchern griff ich „Verdant Venice. Gardens in the City of Water“, das mir die Autorin nach einem langen Spaziergang an einem kalten Wintertag 2012 geschenkt hat. Tudy Sammartini wurde damals als eine venezianische Ikone verehrt. Das deutsche Publikum hatte sie durch ihren Auftritt im Dokumentarfilm „Das Venedig-Prinzip“ kennengelernt, in dem sie mit schnoddriger Grandezza gegen die Pest der Grandi Navi wetterte.

Beeindruckt schrieb ich ihr eine Mail, bald darauf besuchte ich Tudy (nur so wollte sie genannt werden) in ihrem Haus ganz in der Nähe der Hafenverwaltung. Es war von außen mit dichtem Grün umgeben, innen ganz von Kunst, Büchern und einem ausufernden Venedig-Archiv erfüllt.

Tudy Sammartini zeigte mir die verborgenen Gärten der Stadt

Nach einem ordentlichen Schluck Weißwein, den Tudy wie alle Venezianer, die ihren Wein noch lose kaufen, aus einer großen Plastikflasche eingoss, zogen wir los. Sie wollte mir die verborgenen Gärten der Stadt zeigen, die als rare Privatoasen der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben.

In ihrem Reich kannte sie jeden Baum, aber auch jeden kleinen Dealer. Tudy war groß und herb in ihrem Auftreten, in ihrer tiefen Stimme rasselte das Kettenrauchen mit. Nachdem ihr Mann, der Architekt und Künstler Ugo Sissa, 1980 tödlich mit dem Auto verunglückt war, widmete sie ihr stolzes Herz und ihre scharfe Zunge ganz ihrer Stadt.

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Auf dem nassen Pflaster war sie mit Anfang 80 schon etwas unsicher unterwegs und griff, nicht Hilfe suchend, sondern Widerstand einfordernd, bei Anstiegen nach meinem Arm.

Sie stammte aus altem venezianischem Adel, die Palazzi am Canal Grande wären ihr natürlicher Lebensraum gewesen. Doch für ihre dort lebenden Verwandten hatte Tudy nur beißenden Spott übrig. Sie hat es von Familienpfründen weg in die weite Welt gezogen, nach Afrika, Australien, Mexiko, Kalifornien und Kanada.

Etwas sträubte sich dagegen, einfach Geschichte zu werden

Und nun rekonstruierte sie als blühendes Bollwerk gegen die Touristenschwemme alte Gärten wie den hinter der Stoffmanufaktur Fortuny auf der Giudecca. Viel war von ihm noch nicht wieder zu sehen, als wir dort in der feuchten Kälte standen. Aber Tudy polterte voller Tatendrang und war äußerst zufrieden mit dem ausgehandelten Honorar. Jedes Jahr wurde ein weiterer ihrer alten Sessel von Fortuny neu mit Luxusstoff überzogen.

Ich habe unsere Begegnung nie aufgeschrieben und deshalb ein schlechtes Gewissen mit mir herumgeschleppt. Doch manchmal sträubt sich etwas dagegen, einfach Geschichte zu werden. All die Jahre habe ich immer mal wieder an Tudy gedacht, erwogen, beim nächsten Venedigbesuch in dem Apartment zu wohnen, das sie in ihrem Haus vermietete. Es kam nicht dazu.

Im zweiten Lockdown habe ich jetzt, „Verdant Venice“ auf dem Schreibtisch, am Laptop nach ihr gefahndet. Es gibt Autoreneinträge, die ihr aktuelles Alter mit 90 Jahren angeben. Sucht man aber auf venezianischen Seiten, erfährt man, dass Tudy Sammartini im September 2016 verstarb. Sie verbat sich kirchliche Zeremonien, ihre Asche wurde in die Laguna gestreut. Seitdem geht sie mit den Gezeiten ein und aus in ihrer zwangsweise plötzlich zur Ruhe gekommenen Stadt.

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