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Videoansprache von Wolodymyr Selenskyi an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

© IMAGO/Christian Thiel

Kolumne „Spiegelstrich“: Warum Scham und Spontaneität für die Politik so wichtig sind

Nach Selenskyis Rede im Bundestag machte Kanzler Scholz weiter nach Tagesordnung. Und blamierte sich gerade dadurch.

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn per Mail unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer

Ein Gefühl und eine Fähigkeit sind in diesen Wochen wichtig geworden, Scham und Spontaneität, und bevor wir zu den relevanten Themen kommen, kurz zu Erinnerungen an junge Jahre.

Betr. Spontaneität: Der Held meiner Jugend, Volleyballtrainer und Deutschlehrer, brachte uns bei, dass der Sinn täglichen Trainings Befreiung sei. Je routinierter, je sicherer ich im Grundsätzlichen bin, Fitness, Technik, Spielverständnis, desto lustvoller, nämlich selbstbewusst und frei spiele ich – und beim Matchball im fünften Satz gegen einen monströsen Dreierblock kann gelingen, was nie geübt wurde.

[Alle aktuellen Entwicklungen zum Ukraine-Krieg lesen Sie hier in unserem Newsblog.]

Betr. Scham: In einem verrauchten VIP-Raum des Münchner Olympiastadions empfingen nach den Heimspielen der Trainer und der Manager des hochglorreichen FC Bayern, Jupp Heynckes und Uli Hoeneß, Münchens Sportjournalisten. Ich war der Neue, weiß noch, wie mir schwindlig wurde, spüre heute noch, wie ich damals keine Luft mehr bekam. Dass ich im Fallen die Weißbiergläser vom Tisch gefegt hätte, erzählten mir später liebe Kollegen. Es war, gleich zu Beginn, der bislang peinlichste Moment eines Journalistenlebens.

Scham sorgte dafür, dass in Nordamerika die Sklaverei abgeschafft wurde

Scham kann bleiben, und Scham prägt; Scham ist Gefühl unserer Zeit, weil soziale Medien uns zugleich ermächtigen und ohnmächtig machen: Wir können andere beschämen, können bloßgestellt werden. Scham sei die Angst vor dem Verschwinden, schrieb Vivian Gornick in „Harper's“, sei wesentlich für die soziale Ordnung, sagte Konfuzius, für ethisches Verhalten auch, das glaubte Aristoteles. Hätten wesentliche Teile Nordamerikas sich nicht geschämt, hätten sie die Sklaverei nicht abgeschafft.

In der Politik lässt sich vieles üben, sowieso Rede und Auftritt, die Besten werden durch gelassene Sicherheit humorvoll. Wieso Olaf Scholz und seine Bundesregierung sich nicht überlegt hatten, wie sie idealerweise reagieren könnten, falls Wolodymyr Selenskyj im Bundestag eine historische Rede halten würde, kann in dieser Regierung schon heute niemand mehr erklären. Sie wissen es: Die prophylaktische Analyse von Szenarien hilft.

Scholz bescherte eine historische Stunde kollektiver Scham

Aber auch ohne Vorbereitung ist eine Reaktion möglich. Man nennt das Empathie: Etwas berührt mich, ich fühle mit, reagiere. Dass Scholz auf Selenskyi nicht antwortete, dass der Bundestag bei seiner Tagesordnung (nächster Punkt: zwei Geburtstage) blieb, wurde zur leider gleichfalls historischen Stunde kollektiver Scham.

Ungeplantes ist aufregend und riskant, darum haben Spontaneität und Scham so oft miteinander zu tun. Zeit: haben wir nicht. Handeln: müssen wir, jetzt. Also macht Scholz, was Scholz immer gemacht hat (nur an jenem Sonntag nicht, als er eine Zeitenwende definierte und die Führung des Landes übernahm): Er wagt lieber nichts und blamiert sich diesmal eben dadurch.

Es ist fatal, dass die Bundesregierung die Corona-Maßnahmen lockert

Und nun hält die gesamte Regierung inklusive Karl Lauterbach an ihren von der FDP verlangten Lockerungen fest, wie geplant, obwohl ungeplant die Flüchtlinge dazukommen, ungeplant viele Menschen sterben, ungeplant viele krank werden, mehr denn je. Diese Unfähigkeit, spontan klug zu reagieren, wird die Unfähigkeit nach sich ziehen, die Impfpflicht durchzubringen, da diese nicht mehr erklärbar sein wird.

Ob Lauterbach sich schämt? Gewiss, er weiß es besser.

Ob auch Putin Scham kennt? Ja, aber anders als wir es uns wünschen

Und kann eigentlich Putin spontan reagieren? Sich korrigieren? Was er der Ukraine antut, ist mutmaßlich ein vielfaches Kriegsverbrechen. Putin dürfte inzwischen wissen, dass sein Plan absurd war, weil an keiner Stelle dessen Grundannahmen stimmten.

Schämt er sich? Ja, aber leider wegen der angeblich schmählichen Rolle Russlands in der Welt, deshalb hat er den Krieg ja begonnen.

Klaus Brinkbäumer

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