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Der Schauspieler Ulrich Matthes ist seit Februar Akademie-Präsident, für zunächst drei Jahre.

© Florin Liedel/DFA

Interview mit Ulrich Matthes: „Hört auf mit den Vorurteilen!“

Ulrich Matthes ist neuer Präsident der Deutschen Filmakademie. Ein Streitgespräch über den Filmpreis, Steuergelder als Prämie – und Neugier als Notwendigkeit.

Herr Matthes, Sie sind ein viel beschäftigter Schauspieler. Was hat Sie veranlasst, Präsident der Filmakademie zu werden?

Es war nicht so, dass ich mit der Haubitze einmarschiert bin und gerufen habe, das ist jetzt mein Laden. Als Iris Berben ankündigte, dass sie ihre Amtszeit nach neun Jahren nicht verlängert, dachte ich, ihre Nachfolgerin wird hoffentlich eine Frau. Grundsätzlich muss es mehr Frauen in den vorderen Reihen geben, wofür sich bitte auch Männer engagieren sollten! Aber dann haben Iris und die Akademie-Geschäftsführerin Anne Leppin mich bekniet – und ich schlief ein paar Nächte schlecht.

Wieso das?

Weil ich Dinge immer gern 100-prozentig mache. Aber da mir der Mikrokosmos meiner Rollen manchmal etwas zu klein ist und ich mehr Verantwortung übernehmen will, sagte ich schließlich zu. Wobei ich manchmal immer noch schlecht schlafe: 2000 Mitglieder mit sehr unterschiedlichen Interessen und zu Recht selbstbewussten Egos, da muss ich als meinungsfreudiger Mensch eine gewisse empathische Diplomatie walten lassen.

Hilft es da, dass Sie Schauspieler sind?

Nee, ich spiele keine Rolle als Präsident, das bin ja ich! Das Großartige an der Filmakademie ist unter anderem, dass sie die Aufgabe der Lola-Verleihung mit wunderbaren kleineren, viel zu wenig bekannten Projekten verbindet. Beispiel Filmbildung: Bei dem Projekt "Mix it" tauschen sich Jugendliche mit und ohne Flucht-Hintergrund über Filme aus und realisieren Kurzfilme zusammen. Ein tolles Integrationsprojekt. Das möchte ich intensivieren.

Auch das Projekt „Klassiker sehen, Filme verstehen“?

Ich wollte vor 40 Jahren ja mal Lehrer werden… Wir arbeiten mit 55 Schulen in ganz Deutschland zusammen, um ein Bewusstsein für die filmische Tradition zu wecken. Worauf bezieht sich Bully Herbigs Western-Parodie „Der Schuh des Manitu“? In welcher Vampirfilm-Tradition stehen die „Twilight“-Filme? Hierzulande hat die Filmkunst zu Unrecht nicht den gleichen Stellenwert wie die Bildende Kunst, Theater, Musik und Literatur, auch bei vielen Politikern nicht. In Frankreich ist Truffaut kulturell genauso bedeutend wie Racine. Fritz Lang würde nie in einem Atemzug mit Kleist genannt. Film gehört in die Lehrpläne, nicht nur der „Erlkönig“. Unser Projekt ist ein Tropfen auf heiße Steine, aber es kann Signalwirkung haben.

Sie haben sich mit „Der neunte Tag“, „Der Untergang“ oder „Novemberkind“ im Kino einen Namen gemacht, trotzdem denkt jeder bei Ulrich Matthes erst mal an Theater. Fühlen Sie sich als Teil der Filmszene?

Theater und Film sind nicht E und U, sondern gleichwertig. Mein Traum als Schauspieler war immer: fiftyfifty Theater und Film. Nicht ganz einfach: Gerade musste ich schweren Herzens eine große Rolle absagen, weil ich in der Zeit „Don Quijote“ probe. Aber im Herbst kommt, wenn die Finanzierung steht, ein großer Kinofilm.

Wenn die DVD-Kiste mit den Filmpreis-Kandidaten kommt, gucken Sie dann so viele deutsche Filme wie möglich?

Ich gucke alle! Notfalls bis morgens um vier. Andernfalls ist es unstatthaft abzustimmen. All die vorausgewählten Filme zu sehen, ist übrigens eine Schule der Empathie. Ich habe einen ausgeprägten Geschmack, aber man begreift dabei, wie viel Herzblut und Arbeit in jeder Produktion steckt, in jeder! Das sagte ich auch in meiner Bewerbungsrede, frei nach Willy Brandt: Mehr Solidarität wagen! Angesichts einer sich zunehmend spaltenden Gesellschaft ist das wichtiger denn je. Nicht das schnelle Daumen rauf, Daumen runter, sondern Respekt vor den Projekten der anderen. Selbst wenn sie misslungen sind. Ich bin doch auch nicht immer glanzvoll.

Danke, Herr Matthes. Ihre Ausführungen lassen erkennen, dass Sie gerade auch als Künstler ein politischer Mensch sind. Ihre Präsidentschaft wird der Filmakademie ein schärferes Profil verleihen.

schreibt NutzerIn Wolf.Bonitz

Der Preis wird seit 2005 von der Akademie vergeben, seitdem wird die Verquickung von Branchenpreis und staatlichen Kulturfördergeldern kritisiert, rund drei Millionen Euro. Ich bin überzeugt, dass man über Kunst nicht abstimmen, sondern diskutieren sollte. Was sagen Sie zu der Kritik?

Die Produzenten in der Akademie sind glücklich über diese kostbaren, weil gremienunabhängigen Fördergelder. In der Branche oder der Politik gibt es keine öffentliche Auseinandersetzung darüber, nur seitens der Filmkritiker. Ich habe die Hoffnung, dass die Journalisten, je mehr sie über die Akademie wissen, das jetzige Procedere irgendwann akzeptieren. Wir stimmen doch nicht nur ab, da widerspreche ich vehement! Wir diskutieren leidenschaftlich. Es wird auch keine Lobbyarbeit betrieben, es ist nicht so, dass mächtige Produzenten die anderen beackern, damit die ihre Filme wählen. Wir sind doch kein Kaninchenzüchterverein, sondern selbstbewusste Künstler, die sich nichts vorschreiben lassen. Nichts gegen Kaninchenzüchter…

Aber wenn 2000 Menschen abstimmen – wie viele davon stimmen tatsächlich ab? –, pendeln sich die Voten eher bei Konsensfilmen ein und weniger bei den mutigen. Es ist kulturelle Produktionsförderung, für alles andere ist der größte Teil der 340 Millionen Euro in den diversen Fördertöpfen da.

Die These träfe zu, wenn in all den Jahren die konsensualen Blockbuster die Hauptpreise gewonnen hätten. „Western“ von Valeska Grisebach, ein wunderbarer, verwegener Film, der nicht viel Geld an der Kinokasse eingespielt hat, gewann 2018 die Lola in Bronze. Die Akademiemitglieder sind nicht so dämlich, dass sie die Qualität eines solchen Werks nicht erkennen.

„Sehnsucht“, Grisebachs Film von 2006, der genauso gut war, schaffte es nicht mal in die Vorauswahl. Bei 2000 Voten kommt es zu Schwarmverhalten.

Demokratie ist Schwarmverhalten? Wenn ich als Bürger in der Wahlkabine meine Kreuzchen mache, bin ich doch ein Individuum. Die Akademie-Mitglieder sind alle Experten auf ihrem Gebiet, mit Erfahrung und Qualitätskriterien. Zu unterstellen, dass eine Vielzahl von Stimmen immer auf Mittelmaß hinausläuft, finde ich schnöselig. Die Gewinner der vergangenen Jahre – „3 Tage in Quiberon“, „Toni Erdmann“, „Der Staat gegen Fritz Bauer“, „Victoria“ – waren doch keine Fehlentscheidungen. Natürlich gab es Preise, über die auch ich nicht glücklich war. Aber das passiert auch bei einer Jury.

"Die Filmakademie sollte noch politischer werden"

Der Schauspieler Ulrich Matthes ist seit Februar Akademie-Präsident, für zunächst drei Jahre.
Der Schauspieler Ulrich Matthes ist seit Februar Akademie-Präsident, für zunächst drei Jahre.

© Florin Liedel/DFA

Kunst ist immer Minderheitenprogramm. Mit Mehrheitsabstimmungen kommt man ihr nicht bei.

Warum stört Sie das bei den Oscars nicht?

Weil die nicht die künstlerische Qualität steigern sollen, wie es in den Richtlinien der Kulturstaatsministerin heißt, und nicht mit Steuergeldern dotiert sind.

Ich stehe zu diesem Verfahren und verteidige es. Natürlich diskutieren auch wir darüber, wie man es noch besser machen kann, wir nehmen die Kritik ernst. Es gibt auch Regisseure, die mit dem Verfahren Probleme haben, von mir hochgeschätzte Filmemacher, mit denen ich mich darüber austausche. Als der Filmpreis noch von Jurys vergeben wurde, wurde auch geschimpft.

Weil sie weniger aus Experten bestand als aus Vertretern von Politik und Gesellschaft. Warum nicht für die hochdotierten Hauptpreise eine Fachjury, die zur Hälfte aus Kulturschaffenden besteht und zur Hälfte von der Akademie bestückt wird?

Wieso nur zur Hälfte? Warum sollte ein Schriftsteller eher in der Lage sein, über Filme zu urteilen? Die Akademie-Mitglieder sind Filmexperten, alle. Worüber ich mir Gedanken mache, ist die Vorauswahl. Darüber entscheiden Gremien aus unseren Reihen. Sie sollen ein möglichst breites Angebot zusammenstellen für die Mitglieder, die über die Nominierungen abstimmen. Die Verantwortung dieser Gremien ist enorm. Es beginnt bei der Frage des Unterschieds zwischen genuinen Kinoproduktionen und Fernsehfilmen. Oder die Frage U und E. Was heißt kulturell wertvoll? Ist „Fack ju Göhte“ das etwa nicht?

Es ist sehr gutes Unterhaltungskino. Der Preis ist für etwas anderes dotiert, er kann das speziell deutsche Gefälle zwischen U und E etwas ausbalancieren.

Das ist eins meiner Mega-Anliegen: Es gibt mieses Unterhaltungskino und großartiges, anregendes, berührendes. Es gibt fade Filmkunst und fantastische. Die Unterscheidung von angeblich vorhersehbarem Mainstream, Hausnummer Schweiger und Schweighöfer, und angeblich per se guter „Kunst“, Hausnummer Berliner Schule – dieses Dogmatische schwärt auch in der Akademie. Ich finde das hochmütig. Ich werde wütend, wenn die Intellektuellen-Fraktion sich arrogant über ein Publikumskino erhebt, das mit genauso viel Engagement entsteht. Umgekehrt ist es idiotisch, wenn alles Anspruchsvolle zu abgehobenem Kunstmist erklärt wird!

Sie regen sich auf.

Das ist genau die gefährliche Spaltung, die dazu führt, dass sich in den USA Republikaner und Demokraten die Köpfe einschlagen. Weil die vermeintlich Schlauen sich nicht mehr für die interessieren, die die Millionen-Erfolgsfilme gucken. Hört auf mit den Vorurteilen, seid neugierig aufeinander! Auf „Sweethearts“ von Karoline Herfurth genauso wie auf „Ich war zuhause, aber ...“ von Angela Schanelec.

Und wie finden Sie die Vorauswahl in diesem Jahr?

Ich bin jetzt mal undiplomatisch: Es betrübt mich, dass Ulrich Köhlers tollkühne Robinsonade „In My Room“ mit dem wunderbaren Hans Löw nicht dabei ist. Trotzdem stehe ich loyal zu der Kommission, die diese Entscheidung getroffen hat. Auch wenn ich dafür werbe, dass solche Filme künftig dabei sind, die ungewohnten Werke – in beide Richtungen, U und E.

„In My Room“ lief in Cannes. Auch Philip Grönings Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ und Jan Bonnys Locarno-Wettbewerbsfilm „Wintermärchen“ haben zum internationalen kulturellen Erfolg des deutschen Films beigetragen. Sie sind alle nicht dabei. Das verstehe ich nicht.

Noch mal: Ich verteidige die harte Arbeit der Vorauswahl-Kommission. Aber ich möchte das Bewusstsein dafür schärfen, was mit Film möglich ist, und was man fördern sollte.

Welche Themen wollen Sie denn noch auf die Agenda setzen?

Grundsätzlich finde ich, dass die Filmakademie noch politischer werden kann und sollte. So ist leider die Gesamtsituation, in Deutschland und in Europa. Dazu gehört, wie gesagt: Frauen nach vorne! Auch darüber werde ich mit der von mir hochgeschätzten Monika Grütters reden.

Und die Netflix-Debatte?

Die Streamingdienste sind da, die Angst um die Kinos auch. Frau Grütters will einen runden Tisch ins Leben rufen, da sind wir dabei. Die Kinos als Orte müssen attraktiver werden. Mit Hunderten von Menschen gemeinsam lachen, atmen und Tränen vergießen, die großen Emotionen, die großen Bilder – das Gemeinschaftserlebnis gibt es nicht zu Hause auf der Couch.

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