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Gesangstechnisch eindrucksvoll: Yuliia Alieksieieva als Leonore und Sehii Androshchuk als Florestan sorgen für die erhabeneren Momente.

© Christina Iberl

Gastspiel der Oper Kiew: Wodka über der Kloschüssel

Solidarität in Kriegszeiten: Das Staatstheater Meiningen gibt der „Fidelio“-Inszenierung der Kiewer Oper eine Bühne. Ihre Premiere erlebte sie noch in der Ukraine.

Einen unmittelbar bevorstehenden Krieg, ja ein Bombardement Kiews könne sich niemand vorstellen, meinte Regisseur Andrey Maslakov noch, als am 12. Februar sein „Fidelio“ im Modern Music Theatre Kiev Premiere hatte. Ursprünglich war die Produktion bereits für das Beethoven-Jahr 2020 geplant gewesen, aber die Pandemie erzwang einen Aufschub. Beethovens einzige Oper war bis dahin noch nie im ukrainischen Staat gespielt worden, eine geplante Aufführung unter den Nationalsozialisten scheiterte 1943.

Maslakows Inszenierung, die vor der Invasion gerade ein Mal in Kiew gezeigt werden konnte, hat nun Intendant Jens Neundorff von Enzberg in das Staatstheater Meiningen eingeladen – gewaltigen Widerständen zum Trotz. So war es bereits äußerst schwierig, auf diplomatischem Weg Ausreisebewilligungen für die 18- bis 60-jährigen Darsteller zu erhalten, die sich in der Ukraine zum Wehrdienst bereit halten müssen. Auch der Transport des Bühnenbilds und der Kostüme über Rumänien und Ungarn wurde zur Odyssee und stand mehrmals kurz vorm Scheitern. Die Ausstattung war vom Regisseur selbst entworfen worden.

Spekulation bleibt, wie ohne diesen Kontext das abenteuerliche Gastspiel wohl aufgenommen worden wäre. Beethovens Freiheitsoper wird von Maslakov und seiner Truppe nämlich nicht als kulturelle besinnliche Gedenkveranstaltung zelebriert, sondern als provokatives Regietheater vorgeführt: bisweilen komisch, voll lustvollem Trash und öfter geradezu zotig. Maslakov lässt „Fidelio“ im Stalinismus der 1950er Jahre spielen, wobei immer wieder auch das Klosett in der Wohnung von „Genosse“ Rocco (Oleksander Kharlamov) aufgesucht wird. Über der Kloschüssel trinkt man gerne seinen Wodka. Doch auch Leonore geht bei ihrer großen Arie aufs stille Örtchen, wo sie einen Plastikpenis unter der männlichen Verkleidung hervorzieht und ablegt.

Derbe Zwischentöne in gebrochenem Deutsch

Die bisweilen derben Zwischentexte hat man, während das Kiewer Ensemble in Meiningen auf den Bühnenbild-Transport wartete, aus dem Ukrainischen in ein gebrochenes Deutsch übersetzt. Doch nicht nur Libretto-Zusätze oder Zwischenrufe mitten in der Arie – „Bring doch den Aschenbecher!“ ruft Fidelio genervt Marzelline zu – sind in Beethovens Musik integriert; auch andere Komponisten werden zitiert. Statt der sonst üblichen Leonoren-Ouvertüre spielt etwa im Finale vor dem Auftritt des Ministers Peter Ilitsch Tschaikowskys „Schwanensee“.

Regisseur Andrey Maslakov konnte die Premiere seiner Inszenierung am 12. Februar noch im Modern Music Theatre Kiev feiern.
Regisseur Andrey Maslakov konnte die Premiere seiner Inszenierung am 12. Februar noch im Modern Music Theatre Kiev feiern.

© Promo

Zum russischen Ballett-Klassiker sind historische Videoaufnahmen zu sehen, in einer Montage auch lachende Politiker in der Menge. Vor allem Diktatoren: Gaddafi, Lenin, Castro, außerdem Gorbatschow. Und der Fall der Berliner Mauer. Einer eindeutigen politischen Botschaft verweigert sich das Spektakel. Auch dem Finale traut Maslakow nicht: Während Pizarro (Dmytro Kyrychek) von der Menge brutal gedemütigt und schließlich gehängt wird, posiert gleichzeitig der Minister in Frack und Zylinder dümmlich lächelnd für die Kamera. Und Leonore, deren vorbildliche Gattentreue doch alle so preisen, bekommt eine Küchenschürze verpasst, um von Marzelline im Kochen unterwiesen zu werden. Doch warum erschießt Leonore dann am Ende (kurz denkt man an Tarantino-Filme) das gesamte Ensemble? Rätsel, die produktiv offen bleiben.

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Gesangstechnisch beeindrucken vor allem Yuliia Aliekseieva als Leonore und Serhii Androshuck als Florestan in ihren beiden großen Arien. Den Chor stellen die Theater Coburg und Meiningen, als Orchester spielt die Meininger Hofkapelle. Man merkt hin und wieder, dass nur wenige Proben für das spontan angesetzte Gastspiel zu disponieren waren, aber das nimmt man wegen der Schwierigkeiten, die dieses Abenteuer ausmacht, gerne in Kauf. Den so bewegenden kulturellen Austausch zwischen der Ukraine und Deutschland demonstriert dabei auch ein Wechsel am Pult: Den ersten Akt dirigierte Sergej Golubnychny aus Kiew, den zweiten der Meininger Generalmusikdirektor Philippe Bach.

Am Schluss werden wie im Kino – bevor ein sehr langer Applaus einsetzt – auf der Leinwand in einer Art Nachspann alle, die den Abend bestritten haben, vorgeführt. Heiter und voller Energie zeigt sich das Ensemble noch einmal im Gestus ihrer Rollen. „Freiheit ist ansteckend“ ist als Schriftzug zu lesen. „Kultur kann den Krieg nicht beenden, aber vielleicht zumindest ein wenig bremsen“, sagt Neundorff von Enzberg. Ziel, heißt es in diesem Fidelio, ist die Verständigung, nicht Krieg.

Die Produktion in Meiningen war ein einmaliges Unterfangen, weitere Gastspiele sind aber (bisher ohne Termin) geplant, unter anderem in Coburg, Heidelberg und Siegen. Und vielleicht kann auch die zunächst bis zum 25. Mai erteilte Ausreiseerlaubnis für die wehrpflichtigen Männer im Ensemble doch noch einmal verlängert werden.

Bernhard Doppler

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