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Komplizierte Gefühle. Die unterkühlte Literaturprofessorin Leda (Olivia Colman) wird im Sommerurlaub von ihrer Vergangenheit eingeholt.

© YANNIS DRAKOULIDIS/NETFLIX

„Frau im Dunkeln“ im Kino: Maggie Gyllenhaal hat Elena Ferrante phänomenal adaptiert

Mit „Frau im Dunkeln“ debütiert die Schauspielerin als Regisseurin. Die Geschichte über zwei sehr verschiedene Mütter ist der Inbegriff eines weiblichen Blicks.

Von Andreas Busche

Die Invasion kommt vom Meer. Ein schwarzes Motorboot nähert sich dem Strand, voll mit lauten, testosteronüberschüssigen jungen und übergewichtigen mittelalten Männern. Die Lackierung hat etwas Martialisches: ein mattes Schwarz, welches das mediterrane Sonnenlicht und das Azurblau des Meeres gleichermaßen zu absorbieren scheint. Ein Fremdkörper, dessen Fracht sich nach der Landung augenblicklich auf den Strand ergießt.

Es wird jedoch keine amerikanische Flagge gehisst. Die Invasoren hieven lediglich Essen und Campingtische in den Sand, ihre natürliche Verdrängung macht weder vor Touristen noch den Einheimischen halt. Nur ein Feriengast hält dem Ansturm stand. Auf die selbstverständliche Frage, ob sie auch ihren Platz an der Sonne aufgeben würde, gibt Leda unterkühlt den Bartleby. Sie würde lieber nicht. Ein Affront. Die ungewohnte Zurückweisung lässt die Mienen der Männer verfinstern. Ledas Aufmerksamkeit ist hingegen wie magnetisiert von einer jungen Mutter und deren kleiner Tochter.

Maggie Gyllenhaals Regiedebüt „Frau im Dunkeln“ (im Original „The Lost Daughter“) nach dem gleichnamigen Roman der Bestsellerautorin Elena Ferrante ist auch ein Film über Amerikaner in Europa, ein Clash der Kulturen. Die Cambridge-Literaturprofessorin Leda (Olivia Colman) verbringt ihren Urlaub auf einer griechischen Insel, nur eine Bootsfahrt von der Hippie-Enklave Hydra entfernt, wo Leonard Cohen in den Sechzigern Inspiration suchte. Die New Yorker Großfamilie, mit Wurzeln auf der Insel, bevölkert jeden Sommer eine rosa Villa mit Meerblick, wie der junge Strandaufseher Will (Paul Mescal) Leda steckt. Er weiß auch: „Es sind schlechte Menschen“.

Ein latente Bedrohung liegt von Beginn an über der Bucht. Auf dem Heimweg wird Leda von einem Wurfgeschoss verletzt, die tätowierten jungen Männer lungern auf dem Parkplatz herum. Gyllenhaal deutet ihre Urlaubsgeschichte zunächst als Thriller an, auch das pittoreske Stillleben mit Obstschale in der Ferienwohnung erweist sich als trügerisch: Die Früchte faulen bereits vor sich hin. Leda fühlt sich sichtlich nicht wohl in ihrer Haut, und Colman verkörpert diese feinnervige Anspannung mit oft nicht mehr als einem Ziehen im Mundwinkel – oder auch schon mal mit einer impulsiven Avance an den Verwalter der Ferienanlage. Noch so ein amerikanischer Exilant, gespielt von Ed Harris.

Ihre volatile Körpersprache steht wie eine Mauer zwischen Leda und ihrer Umwelt. Und dem Publikum. Gyllenhaal, die für ihr Drehbuch in Venedig ausgezeichnet wurde, ihre Kamerafrau Hélène Louvart und ihr Editor Affonso Gonçalves hüllen Leda in ein Geheimnis, das der Film niemals vollends preisgibt. Ihre verstohlenen Blicke in Richtung Nina (Dakota Johnson) und Tochter Elena (Athena Martin Anderson) wirken zunächst wie aus einer Laune in der Urlaubsmonotonie geboren. Die Familiendynamik am Strand mit ihren zahllosen Protagonisten – besonders prominent: Ninas Schwägerin Callie (Dagmara Dominczyk) und deren Ehemann Vassili (Panos Koronis), gleichzeitig Familienpatriarch und heimlicher Pate des Ferienorts – wird zur Obsession.

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Leda erkennt in der jungen Frau auch etwas von sich selbst wieder – und der Beziehung zu ihren eigenen, inzwischen erwachsenen Töchtern Bianca und Martha. Verdrängte Erinnerungen. Die Bilder, die in kurzen Flashbacks wie schemenhafte Doppelbelichtungen die Sommeridylle zu überlagern beginnen, entstammen einem früheren Leben. Doch die ambivalenten Gefühle, die sie evozieren, haben all die Jahre überdauert. Als Elena an einem Nachmittag beim Spielen am Strand verloren geht und Nina einen Moment mütterlichen Horrors durchlebt, kommen die beiden Frauen sich näher. Es ist auch der Punkt, an dem Jessie Buckley als junge Leda – zweifache Mutter mit akademischen Ambitionen, gefangen im emotionalen Schraubstock ihrer Kleinfamilie – als ebenbürtige Protagonistin hinter Colman hervortritt.

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Die beiden Frauen spielen, obwohl sie sich kaum ähneln, Komplementärfiguren, die über eine Zeitspanne von zwanzig Jahren in einen Dialog treten. Die verstockten Reaktionen von Colmans Leda auf ihre Umwelt – einer Frau, die sich für ihre selbst gewählte Unabhängigkeit schämt, weil der Preis (die Zuneigung ihrer Töchter) hoch war – werden erst rückblickend lesbar in Buckleys passiv- aggressiver Dünnhäutigkeit im Umgang mit Bianca und Martha. Die Rückblenden sind so ambivalent wie die Muttergefühle, hin und her gerissen zwischen Liebe und Zurückweisung. Colmans Leda ist eine komplizierte, verschlossene Figur, Buckley zeigt ihr Potenzial auf. Durch die Begegnung mit Nina und Elena wird es reaktiviert.

Gyllenhaal hat Ferrantes Roman auf wunderbare Weise entschlackt und auf den inneren Monolog verzichtet. Was Leda im Roman noch mit sich selbst aushandeln muss, entsteht im Drehbuch allein in der unsichtbaren Interaktion zwischen Colman und Buckley: nahezu wortlos, behutsam tastend in extrem nahen Einstellungen auf Hände (beim Schälen einer Orange), Berührungen, Gesichter.

Der Inbegriff eines weiblichen Blicks

Ferrante schrieb 2018 im „Guardian“, dass sie Gyllenhaal nur unter einer Bedingung die Rechte an ihrem Roman überlassen habe: wenn diese selbst Regie führt. „Es ist wichtig für mich – für sie, für alle Frauen –, dass ihr Unterfangen ein Erfolg wird.“ Ferrante und Gyllenhaal sind im Grunde ein Traumpaar, die Autorin mit einem schonungslosen Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnen und die Schauspielerin, die seit Jahren voller Emphase neue weibliche Perspektiven im Kino fordert. „Frau im Dunkeln“ ist Inbegriff dieses weiblichen Blicks – nicht als Haltung, sondern, wichtiger noch, als Ausdruck. Gyllenhaal sieht ihre Frauenfiguren liebevoller, nachsichtiger als Ferrante, doch erst das Zusammenspiel von Kamera und Montage, Vergangenheit und Gegenwart, macht die Panzerung Ledas transparent; es legt die unverarbeiteten Gefühle offen.

Das Bild ambivalenter Mutterschaft ist bei Ferrante, wie später auch in ihrer „Neapolitanischen Saga“, schlüssig: eine Puppe. Leda findet Elenas Spielzeug am Strand und beschließt aus einem Impuls heraus, es zu behalten. Tage vergehen, in denen die Puppe ein Eigenleben entwickelt. Sie verschwindet, taucht wieder auf, schmutziges Wasser läuft aus ihr heraus, irgendwann nisten sich Würmer ein. Leda kauft ihr sogar neue Kleider, denkt aber nicht daran, dem immer verzweifelteren Kind seine Spielkameradin zurückzugeben.

Ledas Versuche, eine Nähe zu dem leblosen Objekt herzustellen, haben etwas Tragikomisches. Gyllenhaal spielt dabei immer auch mit Topoi des Körperhorrors. „Diese armen Wesen, die aus meinem Bauch kamen“, nennt Leda ihre Mädchen einmal. Es sind kalte, befremdliche Worte. Aber aus Olivia Colmans Blick spricht Liebe.

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