zum Hauptinhalt
Frank Castorf beim Proben in der Deutschen Oper.

© DAVIDS/Christina Kratsch

Frank Castorf im Gespräch: „Es ist spannend, wenn Menschen sich angestoßen fühlen“

Frank Castorf inszeniert zum ersten Mal an der Deutschen Oper. Ein Gespräch über Verdis „Macht des Schicksals“, Berliner Architektur – und ein wenig Volksbühne.

Er trinkt erst einmal einen doppelten Espresso und dann noch einen. Zwei Jahre ist er raus aus der Volksbühne, und der Phantomschmerz über die verlorene Intendanz und Heimat scheint bei einigen seiner ehemaligen Mitarbeiter und bei seinen nibelungentreuen Fans größer zu sein als bei ihm selbst. Frank Castorf (68) kommt mit dem Unterwegssein klar. An der Deutschen Oper Berlin hat am Sonntag seine Inszenierung von Giuseppe Verdis „La forza del destino“ Premiere. Mit Rammstein drehte er einen Film, wo es dann auch um Richard Wagner geht. Den Bayreuther „Ring“ hat er 2013 geschmiedet.

Herr Castorf, wir sitzen hier in einem braun getäfelten Raum, in einem Besprechungszimmer der Deutschen Oper. Das erinnert hier an die Volksbühne.
Ach, irgendwie habe ich vergessen, wie es da aussieht.

Sie kennen so viele Theater von innen. Wie nehmen Sie das wahr, worauf kommt es da an?
Manche Häuser sind mir nah, wie das Schauspielhaus in Hamburg oder das Berliner Ensemble. Na ja, man sitzt da und trauert der Kantine hinterher, der wunderschönen Ausstattung von Helene Weigel mit den wunderschönen Bauhaus-Möbeln und den Fotos von den Gastspielen in der ganzen Welt, das ist ja alles schon lange weg, heute nur noch so ein heller Raum. Die Deutsche Oper verbindet sich für mich eigentlich mit dem Schahbesuch von 1967, die Jubelperser droschen auf die Demonstranten ein, um die Ecke wurde Benno Ohnesorg erschossen. Die Gegend ist mir immer noch fremd, der Berliner kennt ja traditionell nur seinen Kiez. Wenn du im Prenzlauer Berg wohnst, gehste nicht nach Köpenick.

Der Ernst-Reuter-Platz und die Bismarckstraße haben ja auch sozialistische Dimensionen.
Das ist die Berliner Boulevardgröße, die man in anderen deutschen Städten gar nicht hat, der 17. Juni, die Heerstraße, die Stalinallee. Ich kenne die Charlottenburger Gegend nicht sehr gut, aber ich freue mich, dass die Schillerklause und der Diener überlebt haben.

Die alten Theaterabsturzkneipen …
Man kommt hierher und könnte auch in Essen sein oder in Köln. Man sieht die Verwüstungen des Kriegs und den Geschmack beim Wiederaufbau. Fehlgeleitete Architektur, wie auch am Alexanderplatz. Aber der war schon bei Döblin windig. Wahrscheinlich hängt es unbewusst mit der Volksbühne zusammen, dass ich sage, ich bin auch gerne nicht in Berlin.

Das sitzt noch quer, das ganze Volksbühnending?
Ach nein, es ist einfach weit, weit weg. Ich bin Berliner, aber ich war nie ein begeisterter Berliner.

Dostojewski, Richard Wagner, die Franzosen und jetzt Verdi – haben Sie eine Passion für das 19. Jahrhundert? Sie haben diese Stoffe immer wieder auf die Bühne gebracht. Zufall?
Das 19. Jahrhundert stand in einer gewaltigen Aufbruchsituation, das spiegelt sich zum Beispiel bei Victor Hugo, aber auch bei Rimbaud und Verlaine, die so modern waren, dass Brecht sich bei ihnen bediente. Man wusste damals in Europa nicht, wie sich der Kontinent entwickeln, wie frei, wie demokratisch, wie diktatorisch er sein würde. Richard Wagner saß 1848 mit seinem Freund Michail Bakunin in Dresden und bastelte Bomben. Und so jemand entwickelt die Vorstellung vom Gesamtkunstwerk. Der Mensch auf der Bühne ist da nicht bloß eine singende Größe, sondern auch eine realistische Figur. Das ist für mich schon die Nenngröße.

Mögen Sie denn Verdis Musik, mögen Sie Belcanto, das Italienische?
Meine erste Operninszenierung war in Basel sein „Otello“. Die Entäußerung des Menschen beim Singen, durch den Atem – das ist eine eigene und hohe Kunstform, das beherrschen die wenigsten. Davor habe ich große Hochachtung als Schauspielregisseur. Ich kann ja nicht ohne Konzept, ohne meine Sicht auf die Dinge arbeiten, aber der Respekt vor Sängern und Dirigenten ist groß. Das Singen geht vor.

Liebe, Mord aus Versehen, Krieg, Flucht, Rache, ständig wechselnde Schauplätze: Die Handlung von „La Forza del destino“, uraufgeführt 1862 in St. Petersburg und später noch einmal umgeschrieben für Mailand, lässt sich kaum nacherzählen, und ohne Musik wäre es womöglich bloß Kolportage.
Ja, es ist natürlich eine romantische Geschichte um den edlen Wilden Don Alvaro, der sich in das adlige Mädchen verliebt, deren Vater die Beziehung ablehnt und durch irgendwelche höheren Mächte ums Leben kommt. Die aristotelische Einheit von Raum und Zeit und Handlung ist außer Kraft gesetzt. Spanien, Italien, man wandert ständig umher, es herrscht Krieg auf den Schlachtfeldern und in den Seelen der Menschen. Die Oper beruht auf dem Theaterstück „Don Alvaro o la fuerza del sino“ des spanischen Herzogs, Schriftstellers und Politikers Ángel de Saavedra, der als Liberaler selbst ständig auf der Flucht war durch Europa. Die Handlung ist ständig unterbrochen und angehalten, nicht anders als bei „Les Misérables“ von Victor Hugo.

Die Sie am Berliner Ensemble auf die Bühne gebracht haben.
Wenn man die politisch-historischen Hintergründe mitbedenkt, dann wird die Sache klarer. Und dann geht es auch um Religion, um die katholische Kirche. Bei der Leonora in der „Macht des Schicksals“ ist es ähnlich wie bei der Margarethe in Gounods „Faust“, den ich an der Oper in Stuttgart gemacht habe. Beide warten auf die Himmelfahrt für wenig Geld. Der Katholizismus hat die hohen Kathedralen, und wenn man da drin steht, hat man das Gefühl, es muss noch etwas anderes geben als unseren Alltag in der Demokratie. Man schaut hoch und denkt, es ist wunderschön. Verdis Musik versucht eine Assoziation für das Empfinden eines kleinen Menschen zu finden, der einen Dom betritt.

Parallelen zum 20. Jahrhundert. Eine Szene aus Castorfs Inszenierung von „La forza del destino“.
Parallelen zum 20. Jahrhundert. Eine Szene aus Castorfs Inszenierung von „La forza del destino“.

© DAVIDS/Christina Kratsch

Sie haben auf Kuba Voodoo erlebt und sich intensiv mit Dostojewskis Religiosität der Orthodoxie beschäftigt. Und jetzt also der Katholizismus?
Dostojewski ist die andere Seite, Byzanz. Was ich am Katholizismus liebe: Da ist der Mensch, der ständig sündigt, es immerzu tut, denken Sie an Georges Bataille und seine Ausschweifungen, und dann von Gott die Vergebung bekommt. Und sofort wieder nach der Gnadenzuführung anfängt, als Mensch zu leben. Dagegen der ständige protestantische Druck, ein Leben lang vor Gott gut und gläubig zu sein! Dieser Katholizismus auch in der Musik ist ein Aufbruch in eine andere Sinnlichkeit, das gefällt mir. Und wir haben diese großartigen Sänger.

Sie sprachen von Ihrer Konzeption für die „Macht des Schicksals“. Wie kann man sich das vorstellen?
Der Stoff kommt aus dem spanischen Erbfolgekrieg des 18. Jahrhunderts, und dafür suchen wir eine Übersetzung. Es war eine europäische Auseinandersetzung, bis hin zu den Schlesischen Kriegen der Preußen, die Engländer und die Franzosen waren beteiligt. Hitlers Versuch, mit Mussolini und Franco Achsen durch Europa zu ziehen, kann man als Parallele sehen – und 1943 befreien die Alliierten Italien. Curzio Malaparte beschreibt diese Zeit eindringlich in seinen Romanen „Die Haut“ und „Kaputt“.

Eine Verbindung von Verdi also ins 20. Jahrhundert, in den Zweiten Weltkrieg?
Damals war Europa auch in Bewegung, man wusste eben nicht, ob Appeasement die richtige Politik ist – was ist die Antwort auf totalitäre Strukturen? Was wird in Zukunft passieren in der Ukraine? Wie geht unsere infantilisierte Gesellschaft damit um? Nehmen Sie die Klimapolitik: Welchen Einfluss haben relativ kleine Länder wie Schweden oder Deutschland, was machen die Riesen, Indien, Brasilien, Russland, China, die USA? Kann man überhaupt etwas machen?

Dostojewski musste in die Verbannung, Wagner war auf den Barrikaden, Verdi wurde zum Nationalheiligtum …
Auch Hugo wurde verbannt, Verdis „Nabucco“ ist ein musikalischer Aufschrei zur Revolution. Diese Menschen haben sich über Kunst definiert, hatten aber immer auch eine soziale Bindung.

Sind das vielleicht Ihre Helden?
Ach, ich weiß nicht. Als ich damals 1992 Intendant der Volksbühne wurde, haben viele gesagt: Die besten Zeiten liegen hinter ihm. In Karl-Marx-Stadt oder Anklam hatte man tatsächlich eine andere Form von politischer Bedeutung mit Kunst. Das gab es später so nicht mehr.

Solche Opposition lässt sich in einem demokratischen Staat nicht erreichen.
Schwer. Als ich 1989 in München Lessings „Miss Sara Sampson“ inszenierte, hatten wir ja die Hoffnung, dass das Stück wegen offenkundiger Pornografie verboten würde.

Was nicht klappte. Es gab aber schönen Tumult damals beim Theatertreffen-Gastspiel in der Freien Volksbühne. Wie auch einige Jahre zuvor, als Hans Neuenfels hier an der Deutschen Oper „Die Macht des Schicksals“ zum Skandal machte. Teile des bürgerlichen Publikums waren außer sich, es war ein Toben und Gebrüll, eine irre Wutausschüttung. Das Haus bebte.
Es ist immer spannend, wenn Menschen sich entäußern, sich angestoßen fühlen. Es kann auch ein sinnlicher, fast ein erotischer Akt sein.

Warten wir mal den Sonntagabend ab.
Ich bin dann auch schnell wieder weg, ich muss am Montag nach Südamerika.

Am Bühneneingang steht nach der Premiere ein Wagen mit laufendem Motor?
(lacht) So ungefähr.

Zur Startseite