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Adèle Exarchopoulos spielt in „Zero Fucks Given“ eine Flugbegleiterin, die sich mit One-Night-Stands die Zeit vertreibt.

© Charades

Filmfestivals in der Pandemie: Neue Grenzen austesten

Wiederbelebung: Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg feiert 70. Jubiläum – und zeigt ein ungewohnt radikales Programm.

Von Andreas Busche

1968 kam in Mannheim mit Verspätung an. Während in Frankfurt die Studierenden und die Spontiszene, Theorie und Aktion, bereits den Schulterschluss übten (von Barbara Klemm festgehalten in ihrem berühmten Foto von Theodor Adorno und SDS-Sprecher Hans-Jürgen Krahl), erreichte der Protest die Mannheimer Universität erst im folgenden Jahr: Im März 1969 stürmten die Studierenden das Rektorat. Die Bilanz der Aktion bestand zwar nur aus einer zerbrochenen Scheibe und einem zerstörten Türrahmen, aber der revolutionäre Zeitgeist fand in diesem Moment auch in der beschaulichen Kurpfalz Nachklang.

Ein paar Monate später wurde auf dem Filmfestival Mannheim Haskell Wexlers „Medium Cool“, ein Schlüsselfilm des politischen New Hollywood, mit dem Großen Preis der Stadt ausgezeichnet. Der Kameramann Wexler drehte sein furioses Reporterdrama im Sommer 1968 inmitten der Vietnamkriegsproteste auf dem demokratischen Parteitag in Chicago; selten fielen Kino und Zeitgeschichte derart radikal in eins.

Anlässlich runder Jubiläen gehört ein Blick in die eigene Geschichte inzwischen ja zu den Routineübungen, im Fall des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg (IFFMH), wie es seit 1994 offiziell heißt, lohnt dieser Blick aber besonders. „Medium Cool“ läuft dieser Tage in der Retrospektive mit Filmen aus der 70-jährigen Festivalgeschichte – neben Chris Markers „Le Jetée“, Satyajit Rays „Pather Panchali“ und „The Experience“, dem Spielfilmdebüt von Abbas Kiarostami.

Diese Größen des Weltkinos lassen erahnen, welchen Rang das zweitälteste deutsche Filmfestival nach der Berlinale einst international besaß. Gegründet 1952 als „Kultur- und Dokumentarfilmwoche“, war es gewissermaßen Teil der Re-Edukatisierung der alten Bundesrepublik. Von diesem Nimbus zehrte das Festival insbesondere zur Zeit des Neuen Deutschen Films. An diese Tradition möchte der neue Leiter Sascha Keilholz nach der fast 30-jährigen, am Ende bleiernen Ära seines Vorgängers wieder anknüpfen – passend zum 70. Geburtstag, aber eben auch mitten in einer Pandemie.

Ein Kino, das keine einfachen Antworten sucht

Vergangenes Jahr musste das Festival eine Woche vor dem Debüt des neuen Teams abgesagt werden. Insofern ist die Ausgabe 2021 nun Rückkehr, Premiere und Geburtstag in einem. Welches Profil das IFFMH anvisiert, zeigt sich schon an den Namen der neuen Reihen: der Wettbewerb On the Rise, Pushing the Boundaries, Film Experiences und Facing New Challenges. Neue Grenzen auszutesten war ein Anspruch, der in Mannheim schon länger nicht mehr eingelöst wurde.

Den Bürgermeistern der Partnerstädte gingen in ihren Reden daher Allgemeinplätze wie Offenheit, Diversität und „keine einfachen Antworten“ leichter über die Lippen. Zur Belohnung bekamen sie am Eröffnungsabend Dina Amers „You Resemble Me“ zu sehen: ein Sozialdrama, produziert von Spike Lee und Spike Jonze, über die Radikalisierung einer französischen Muslima, die bei den Pariser Anschlägen 2016 als „Cowgirl“ medial bekannt wurde.

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Avanciertes Erzählkino schreiben sich heute, erst recht unter dem Druck der Streamingplattformen, viele Filmfestivals ins Programm. Aber wie mühelos und vielgestaltig man in Mannheim diesen Anspruch bereits im zweiten Jahr umsetzt, stimmt hoffnungsvoll. Keilholz und sein Team sind dabei auf der ganzen Welt fündig geworden. Etwa mit dem MeToo-Drama „Rehana“ von Abdullah Mohammad Saad aus Bangladesch, der sein Thema in beklemmender Weise ganz auf seine Protagonistin, eine Ärztin an einem Universitätskrankenhaus, zuschneidet – ohne sie zum Opfer zu degradieren.

Oder der belgisch-französischen Tragikomödie „Zero Fucks Given“, in der die wie immer überragende Adèle Exarchopoulos („Blau ist eine warme Farbe“) die Flugbegleiterin einer europäischen Billig-Airline spielt, deren Leben auf eine Aneinanderreihung von Zwischenstopps und One-Night-Stands zusammenschnurrt. Beide Filme verbinden, auf formal eindringliche Weise, Familien- und Arbeitsplatzdrama.

Zwischen Frankreich und Berliner Schule

Filmfestivals haben heute mehr denn je auch die Aufgabe, einen Rahmen zu schaffen, in dem etwa eine stille Charakterstudie wie Kyoshi Sugitas „Haruhara-san's Recorder“ – mehr filmisches Haiku als klassisches Erzählkino – nicht im Betrieb untergeht. Mannheim schafft dieses Jahr den Spagat, sowohl den französischen Altmeister Claude Lelouch („Ein Mann und eine Frau“) zu ehren, als auch die deutsche Produzentin Bettina Brokemper („Antichrist“).

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In der Neckar-Minimetropole, auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Stuttgart, findet das Festival gute Bedingungen vor. Gerade hat die Stadt Mannheim dem Kommunalen Kino einen neuen Standort mitten in der Nachkriegstristesse der Innenstadt geschenkt, auf den sich die lokale Kulturpolitik einiges einbilden darf.

Entscheidend wird sein, wie sich das IFFMH in den kommenden Jahren überregional positionieren kann; mit seinem radikalen Programm orientiert man sich eher an internationalen Festivals wie Locarno oder Rotterdam. Ein wichtige Neuerung ist dabei die Online-Plattform, auf der noch bis zum 21. November viele Filme zu sehen sind. Mit seiner inhaltlichen Wiederbelebung schließt das IFFMH schon jetzt eine Lücke in der deutschen Festival-Landschaft. Und präsentiert überraschende Seiten des Pandemie-Kinojahrs 2021. (Das Online-Programm ist noch bis zum 21. November unter www.iffmh.de zu sehen)

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