zum Hauptinhalt
Dancing Queen. Amy (Mia Wasikowska) verliert sich in einem Abba-Song.

© CG Cinema

Filmfestival in Cannes: Auf Wohlfühlsafari an der Croisette

Ingmar Bergman und Haruki Murakami überstrahlen den Wettbewerb in Cannes: Der Sommerfilm „Bergman Island“ und das japanische Drama „Drive My Car“.

Von Andreas Busche

Für ein Paar, das bereits ein paar gemeinsame Entscheidungen hinter sich hat (zum Beispiel ein Kind), ist ein Arbeitsurlaub auf der Ostseeinsel Fårö möglicherweise keine so gute Idee. Der schwedische Existenzialist Ingmar Bergman zog sich Anfang der sechziger Jahre nach seinem Film „Wie in einem Spiegel“ hierhin von der Zivilisation zurück und lebte bis zum Tod mit seinen diversen Frauen ein Eremitendasein. Das New Yorker Filmemacherpaar Tony (Tim Roth) und Chris (Vicky Krieps) – er erfolgreich, sie zweifelnd – sucht in Mia Hansen-Løves Sommerfilm „Bergman Island“ in dieser Abgeschiedenheit Inspiration, auch wenn Chris sich von der Geschichte des Ortes leicht einschüchtern lässt. Schlimmer noch ist da nur die Vorstellung, im Originalbett aus „Szenen einer Ehe“ zu übernachten – eine Erfahrung, die einige Gästepaare schon in die Trennung trieb, wie die Mitarbeiterin des örtlichen Bergman Museums schmunzelnd erzählt.

Die Œuvres der Französin Mia Hansen-Løve und des schwedischen Fatalisten befinden sich an gegenüberliegenden Enden im Spektrum des Erzählkinos. Aber „Bergman Island“ ist, obwohl die Regisseurin den Spuren des Cinephilie-Tourismus um den Nationalhelden ironisch folgt (auf dem Programm steht unter anderem eine Bergman-Safari über die Insel), von einer herzlichen Reserviertheit geprägt. Das gilt auch für die Beziehung von Chris und Tony, deren Altersunterschied in etwa dem von Mia Hansen-Løve und ihrem Lebenspartner (und Regie-Kollegen) Olivier Assayas entspricht. „Bergman Island“ ist ein Metafilm über das Kino und die Rekapitulation von Lebensentscheidungen – bis zu dem Punkt, an dem Chris ihrem Mann den Drehbuchentwurf für einen Film über ihre erste Liebe erzählt; nun übernimmt Mia Wasikowska die Rolle von Chris, dem Alter Ego Hansen-Løves.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können. ]

Beim Zuschauen findet man sich schnell im schlichten Hygge-Modernismus zwischen hellen Holzmöbeln und Lammfelldecken ein; die Bilder sind geschmackvoll-dezent, die Menschen sehen unverschämt gut aus (Anders Danielsen Lie als Chris’ große Liebe, der auch im norwegischen Wettbewerbsfilm „The Worst Person In The World“ die Hauptrolle spielt). Aber den Kern eines echten Gefühls kriegt Hansen-Løve – noch dazu bei einem so autofiktionalen Stoff – nicht zu fassen; Chris und Tony haben sich längst voneinander entfernt, auch die Figuren ihres Drehbuchs bleiben Skizzen. „Bergman Island“ ist Erzählkino, das sich im reinen Erzählen begnügt, und so wundert es nicht, das weder Chris/Tony noch der Film von der Stelle kommen.

Es überwiegt die Erleichterung, dass das Kino überlebt hat

Der Drang zum Erzählen erweist sich zur Halbzeit des Festivals als großes Manko. Man lernt die zwei Stoiker in Juho Kuosmanens Zug-Komödie „Hytti Nro 6“ am Schluss ihrer Reise von Helsinki nach Murmansk am Polarkreis richtig zu schätzen. Ansonsten herrscht im Wettbewerb großer Redebedarf: in Voiceovern, in Flashbacks, am Sterbebett – oder auf alten Kassetten. Die hat in Ryûsuke Hamaguchis „Drive My Car“ die erfolgreiche Theaterautorin Oto (Reika Kirishima) ihrem Mann Yûsuke (Hidetoshi Nishijima), dem größten Tschechow-Darsteller Japans, kurz vor ihrem Tod aufgenommen. Nun hört er ihre Stimme ständig bei der Fahrt in seinem roten Saab. Es handelt sich um ihr Bühnenstück von „Onkel Wanja“: Er füllt die Leerstellen in den Aufnahmen mit seinen Dialogzeilen.

Hamaguchis Adaption einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami ist in ihren Beschreibungen lange verdrängter Verlust- und Schuldgefühle – gegenüber verstorbenen Kindern, Partnern, Eltern – unglaublich behutsam und vielschichtig. Aber seine Reife in der Artikulation von Emotionen, an der es „Bergman Island“ oft mangelt, geht zwangsläufig auf Kosten der Bildsprache. In drei Stunden nähert sich „Drive My Car“ bei Autofahrten und in Theaterproben allmählich einem Trauma an. Hamaguchi, der bei der Berlinale gerade etwas überraschend den Großen Preis der Jury gewann, ist ein guter Drehbuchautor; über eine Idee von Kino verfügt er jedoch nicht.

Für solche cinephilen Spitzfindigkeiten ist Cannes dieses Jahr aber vielleicht der falsche Ort. Im Moment überwiegt an der Croisette die Erleichterung, dass das Kino die vergangenen 15 Monate einigermaßen überstanden hat – obwohl die meisten Filme vor Corona entstanden. Nur im Epilog von „Drive My Car“ sind Masken zu sehen.

Das Worst-Case-Szenario, ein Abbruch des Festivals, ist indes nicht eingetreten. Am Montagabend verkündete Emmanuel Macron, gerade mal zwei Wochen nach weitreichenden Lockerungen, dass ab dem 21. Juli wieder Nachweise für Geimpfte und Getestete für Kulturveranstaltungen ab 50 Personen nötig sein werden. Für das Festival hat diese Entscheidung also keine Konsequenzen mehr. Dennoch währte die Freude über die Rückkehr des Kinos in Cannes nur kurz.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false