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Szene aus "F@ck this Job", einer Doku über den jetzt abgeschalteten unabhängigen Sender Doschd TV.

© Filmfestival Thessaloniki

Film zur Ukraine beim Festival in Thessaloniki: Wir hätten es wissen können

Mutige Journalisten, tapfere Sozialarbeiterinnen: Das Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki, das am Sonntag zu Ende geht, zeigt die griechische Sicht auf den Krieg in der Ukraine.

Als vor einigen Monaten die Auswahl für das Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki getroffen wurde, hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass die Corona-Pandemie aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden sein würde. „How to Survive a Pendemic“ von David France, der in Thessaloniki seine Weltpremiere feierte, schien der ideale Eröffnungsfilm zu sein. Aber das war vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.

„Wie alle waren wir von diesem Krieg überrascht“, sagt Yorgos Krassakopoulos, internationaler Programmchef des am Sonntag zu Ende gehenden Festivals. In der schnell eingerichteten Sektion „With our eyes set on Ukraine“ wurden drei Filme zusammengefasst, die sich mit der aktuellen Krise beschäftigen, ein russischer und zwei ukrainische.

Die griechische Wahrnehmung ist auch vom Dauerkonflikt mit der Türkei geprägt

Nach Festivalbeginn kamen zwei weitere dazu: „Toloka“ des 75-jährigen ukrainischen Regisseurs Mikhail Ilenko, der aus Kiew fliehen konnte, und „The Great Utopia“ des Athener Filmemachers Fotos Lamprinos. In den 1960er Jahren waren sie Studienkollegen an Moskaus Filmhochschule. Solche Verbindungen sind kein Zufall. Russland ist vielen Griechen nahe, weil das Zarenreich die griechische Unabhängigkeitsbewegung gegen das Osmanische Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterstützte. Außerdem spielt die orthodoxe Kirche in Griechenland nach wie vor eine wichtige Rolle, und Russland versteht sich als Schutzmacht der orthodoxen Christen. Viele Griechen blicken anders auf Russland und diesen Krieg als Beobachter in Deutschland.

Als Premierminister Mitsotakis zu den Ersten in Europa gehörte, die Waffenlieferungen in die Ukraine zusagten, gab es im Land Kritik. Mitsotakis verteidigte seine Entscheidung damit, dass Griechen Teil des Konflikts seien. In der massiv umkämpften Region Mariupol leben bis zu 150 000 ethnische Griechen, die ihre Wurzeln in antiken griechischen Siedlungen rund um das Schwarze Meer haben. Bei Luftangriffen kam es zu Todesopfern in der Gemeinde. Unter großer Anteilnahme in Griechenland laufen Evakuierungsmaßnahmen.

Die griechische Wahrnehmung wird auch vom Dauerkonflikt mit der Türkei geprägt. Die Sorge groß ist groß, dass Erdogan den Krieg für seine eigene Agenda im Zypernkonflikt missbrauchen könnte. Oder davon, dass die griechische Wirtschaft auf russische Touristen angewiesen ist. Die traditionell starke griechische Linke ist überwiegend gegen den Krieg.

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Jüngste Umfragen bestätigen einen massiven Bewusstseinswandel. Bis vor Kurzem gehörte Putin zu den populärsten ausländischen Politikern. Eine Mehrheit unterstützt jetzt die Ukraine, nur 15 Prozent Russland, 34 Prozent wollen neutral bleiben.

Zwei Filme aus der Ukraine beleuchten unmittelbar die Hintergründe des aktuellen Geschehens. Im Wettbewerb des Festivals in Thessaloniki läuft der bewegende Film „A House Made of Splinters“, den der Däne Simon Lereng Wilmont im umkämpften Osten der Ukraine nahe Luhansk gedreht hat. Dort, in der nun von Putin anerkannten „Volksrepublik“, haben die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre nicht nur bei den Kämpfern Spuren hinterlassen. Sie haben gesellschaftliche Zusammenhänge, Familien zerstört.

Im Kinderheim. Regisseur Simon Lereng Wilmont besuchte für seinen Film „A House Made of Splinters“ Einrichtungen nahe Luhansk im Osten der Ukraine.
Im Kinderheim. Regisseur Simon Lereng Wilmont besuchte für seinen Film „A House Made of Splinters“ Einrichtungen nahe Luhansk im Osten der Ukraine.

© Verleih

Wilmont begleitete Protagonisten in einem Kinderheim, die mit den Folgen umgehen müssen: Sozialarbeiterinnen, die versuchen Kindern Schutz zu bieten, deren Eltern oft alkohol- oder drogenabhängig sind. Der Film wurde im November 2021 fertiggestellt, Wilmont dafür bereits beim Sundance Festival als bester Regisseur ausgezeichnet. In Thessaloniki feiert der Film europäische Premiere.

Der Erstling „Trenches“ von Loup Bureau erzählt vom Stellungskrieg in der Ostukraine. Unweigerlich sieht man die Filme, die den Konflikt vor Beginn der jüngsten Kriege schildern, mit anderen Augen. In „Trenches“ macht ein ukrainischer Feldkommandeur seinem Ärger Luft: „Die europäischen Politiker sind alles machtlose Arschlöcher. Warum verhandeln mit den Russen? Während Russland in unser Land kommt und unsere Unabhängigkeit untergräbt!“

Für "F@ck this Job" hat die Regisseurin 13 Jahre die Arbeit des jetzt geschassten Senders Doschd TV begleitet

Hätte man es besser wissen können, wissen müssen? Das sagt jedenfalls Vera Krichevskaya, die Regisseurin des Films „F@ck this Job“, in dem sie über 13 Jahre den als letzten freien russischen TV-Sender geltenden Kanal Doschd TV und seine Gründerin Natalya Sindeyeva begleitet hat.

„Es war klar, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Nur wollte uns leider keiner zuhören.“ Das Interesse an ihrer Arbeit sei gering gewesen, nur durch couragierte Fürsprecher in Großbritannien und Deutschland (aufgrund einer Förderung des NDR derzeit noch in der ARD-Mediathek) habe der Film entstehen können. Ihr Film zeigt, wie die Meinungsfreiheit in Russland systematisch eingeschränkt und vollständig durch eine staatliche Propaganda ersetzt wurde.

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Er porträtiert Journalisten, die unter große Gefahren um unabhängige Berichterstattung kämpfen. Ein Einsatz, der mit dem Verbot des Senders und der Flucht vieler Angestellter endet. Vera Krichevskaya ist mittlerweile selbst im Exil. Sie fürchtet, dass Boykottforderungen gegen den russischen Kulturbetrieb auch Kritikerinnen wie sie trifft. Wie soll man nun mit russischen Filmen umgehen? „Wir haben das diskutiert“, sagt Yorgos Krassopolous, „und sicher macht es Sinn, Filme auszuschließen, die mit staatlichen Mitteln gefördert wurde.“ Anders sehe es bei den kritischen, unabhängigen Projekten aus. Das meint auch Vera Krichevskaya: „Es kann nicht sein, dass kritische Stimmen boykottiert werden, die zum Teil schon seit Jahren unter großen Gefahren die staatliche Propaganda kritisieren.“

Ein Film kann nicht die Welt verändern. Aber etwas auslösen

Filmfestivals in Zeiten des Kriegs? Immerhin können sie Zeichen der Solidarität setzen und ganz konkrete Hilfe für ukrainische Künstler und Filmschaffende leisten. Regisseur Simon Lereng Wilmont sollte seinen Film eigentlich im Frühjahr beim ukrainische Dokumentarfestival „Docudays“ präsentieren. Auch die Festivals von Venedig, Kopenhagen oder Stockholm wollen ukrainische Filmemacher unterstützen, ihren Filme eine Plattform geben.

Ein Film kann nicht die Welt verändern, meint Yorgos Krassakopoulos. Aber er kann etwas auslösen: „Es gibt so wunderbare ukrainische Regisseure, mit ihrer ganz eigenen filmischen Vision und Sprache. Sie sind das beste Argument gegen Putins Propaganda, es gäbe keine eigenständige ukrainische Kultur.“

René Wildangel

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