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Jasna Djuricic als Aida in einer Szene des Films "Quo Vadis, Aida?",

© dpa

Europäischer Filmpreis: Mahnmal für den europäischen Gedanken

Der Europäische Filmpreis und seine Folgen: In dieser schwierigen Zeit besticht das europäische Kino durch seine Vielfalt.

Von Andreas Busche

Es war ein gutes Jahr für den europäischen Film, auch mit Blick auf die Festival-Bilanzen. In Cannes und Venedig gewann das französische Kino die Hauptpreise, Julia Ducournaus genresprengender Vater-Sohn-Geschichte „Titane“ und Audrey Diwans Abtreibungsdrama „The Happening“.

Für das Selbstwertgefühl der europäischen Branche – am Ende eines langen Lockdowns, angesichts der Übermacht der Streamingdienste und der Zurückhaltung der US-Studios, die ihre großen Filme über Monate aufschoben – bedeuteten die Preise einen Boost. Die Anerkennung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahlen des Pandemie-Jahres 2020 katastrophal ausfielen, wie der im Oktober veröffentlichte Jahresbericht der International Union of Cinemas (UNIC) festhält.

Die Einnahmen gingen um 70 Prozent zurück. Im selben Zeitraum stieg der Anteil europäischer Produktionen auf europäischen Leinwänden immerhin – wenn auch notgedrungen – auf 40 Prozent.

Die Stimmung ließ man sich dadurch in Berlin aber nicht vermiesen, wo am Samstagabend in einem leeren Fernsehstudio zum 34. Mal der Europäische Filmpreis verliehen wurde. Bereits zum zweiten Mal in Folge ohne Publikum, vor einer handverlesenen Runde von Mitgliedern der Europäischen Filmakademie und einigen Preisträger:innen.

Vielleicht lässt sich die Vielfalt des europäischen Kinos in dieser schwierigen Zeit am besten daran belegen, dass die diesjährige Verleihung ausnahmsweise nicht den einen, alles dominierenden Film hervorgebracht hat. Mit drei Auszeichnungen für den besten Film, Regie und Hauptdarstellerin Jasna Đuričić gewinnt die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić die meisten Auszeichnungen.

Ihr Film „Quo Vadis, Aida?“ ist auch als Mahnmal für den europäischen Gedanken zu verstehen, für den die Filmakademie an diesem Abend wieder vehement eintritt.

Žbanić erinnert an das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, dem schwersten Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs – erzählt aus der Perspektive einer Übersetzerin für die UN-Truppen. Mit diesem unerbittlichen Fokus auf ihre Protagonistin, die mit Verhandlungsgeschick versucht, ihre Familien zu befreien, war der Preis für Jasna Đuričić zwangsläufig.

Erster offizieller Auftritt als Staatsministerin für Kultur und Medien

Das gilt ebenso für den Darstellerpreis für Anthony Hopkins Rolle eines Demenzkranken in „The Father“, die ihm im Februar schon den Oscar einbrachte. Regisseur Florian Zeller gewinnt zudem den Drehbuchpreis.Die Akademie lässt zumindest Selbstbewusstsein durchblicken, indem sie die Sieger von Cannes, Venedig und Berlin bei den Preisen konsequent ignoriert.

Bären-Gewinner Radu Jude geht mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ in den Kategorien Regie und Drehbuch leer aus. Ebenso Paolo Sorrentinos „Die Hand Gottes“, der in Venedig noch den Großen Preis der Jury gewann. Eines kann man der Filmakademie sicher nicht vorwerfen: Mit Žbanić, Yngvild Sve Flikke (deren „Ninjababy“ als beste Komödie ausgezeichnet wird) und Emerald Fennell (FIPRESCI-Preis der Filmkritik für „Promising Young Woman“) ist es ein Gala-Abend der Regisseurinnen.

Als Claudia Roth, bei ihrem ersten offiziellen Auftritt als Staatsministerin für Kultur und Medien, schließlich noch die Norwegerin Maria Ekerhovd als beste Produzentin ehrt, hat der Europäische Filmpreis zumindest für einen Abend die Verhältnisse in der Branche auf den Kopf gestellt. Und nebenbei erbringt die neue Kulturstaatsministerin noch den Beweis, dass auch Funktionärsreden mit Emphase vorgetragen werden können.

Als repräsentativ für das europäische Kino 2021 möchte man die Verleihung dennoch nicht verstehen. Nicht nur die Tatsache, dass ein singulärer Film wie „Titane“ leer ausgeht, irritiert. Auch der Blick auf die Longlist zeigt, dass das Kinojahr formal viel Aufregendes abseits der ausgetretenen erzählerischen Pfade zu bieten hat. Die Akademiemitglieder aber wussten Filme wie Nadav Lapids „Ahed's Knee“, “Annette” von Leos Carax oder „Petrov's Flu“ von Kirill Serebrennikow nicht zu würdigen.

In dieser Vermittlerrolle sieht sich die Europäische Filmakademie künftig stärker verpflichtet. Matthijs Wouter Knol übernimmt ihre Leitung – im Tandem mit der neuen Präsidentin Agnieszka Holland – zu einem kritischen Zeitpunkt. Der langjährige Direktor des European Film Market, der sich bei seiner Premiere angenehm zurückhält, verspricht die Präsenz des europäischen Kinos auch durch strategische Partnerschaften mit Arthouse-Streamingportalen wie Mubi auszubauen.

Und im nächsten Jahr möchte man die Preise, im dritten Anlauf dann, endlich in Reykjavík verleihen.

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