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Der moderne Märchenerzähler Haruki Murakami ist der ewige Kandidat für den Literatur-Nobelpreis.

©  Jordi Bedmar/dpa-bildfunk

Erzählband von Haruki Murakami: Unter dem Pflaster liegt die Magie

Kreise mit vielen Mittelpunkten. Haruki Murakami hält in seinem fabelhaften Erzählband „Erste Person Singular“ Fantasie und Realismus in der Schwebe.

Vor zwanzig Jahren hat Haruki Murakami den Roman „Kafka am Strand“ geschrieben. Darin kam Franz K. gar nicht vor, nur ein 15-jähriger japanischer Junge gab sich selbst den Vornamen Kafka. Nun, in seiner neuen, fabelhaften Story-Sammlung mit dem bezeichnenden Titel „Erste Person Singular“ (Dumont Literaturverlag, Köln 2021. 224 Seiten, 22 €) erinnert sich einer der wechselnden und doch immerzu als Doppelgänger des Autors erscheinenden Ich-Erzähler an ein lange zurückliegendes Erlebnis.

Die Geschichte könnte gut heißen „Dante im Frühherbst“. Doch sie ist überschrieben „With the Beatles“. Dem Erzähler begegnete im Frühherbst 1964, als Murakami selbst 15 Jahre alt war, auf dem Flur seiner Schule kurz eine ihm unbekannte Mitschülerin, die im Vorbeirennen das Schwarz-Weiß-Cover des gerade erschienenen Albums „With the Beatles“ an die Brust gedrückt hielt. Seitdem kann der (wie Murakami) inzwischen gut siebzigjährige Erzähler diesen Augenblick nicht mehr vergessen. „Ein schummriger Schulflur, ein schönes Mädchen, ein schwingender Rocksaum und With the Beatles.“ Nichts sonst.

Natürlich spielt der von der westöstlichen Antike bis zur Popkultur gebildete japanische Welterfolgsautor hier mit dem berühmten Beatrice-Erlebnis des vor 700 Jahren gestorbenen Dante. Dieser hatte das schöne Florentiner Mädchen Beatrice in seiner Jugend gleichfalls nur kurz erblickt, später wurde sie zur Dichter-Liebe seines Lebens. Selbstverständlich muss Murakami das nicht erwähnen. Auch passiert in seiner Erzählung, die nach dem zitierten Satz schon zu Ende sein könnte, auf den folgenden vierzig Seiten nicht mehr viel.

Der vertraute Murakami-Sog

Aber was hier fast ohne Handlung geschieht, entfacht einen für alle Murakami-Fans so vertrauten und doch jedes Mal neuen Sog. Der Erzähler hat später andere, wirkliche Freundinnen, aber welche Realität dann gegenüber der Erinnerung und der Verklärung die stärkere ist, gerät so beiläufig wie kunstvoll in eine raffinierte Schwebe. Die Beatles-Ära verkörpert dabei das goldene Zeitalter der eigenen Jugend, obwohl sich der Musikkenner Murakami in dieser und in anderen Stücken des Bandes eher zur Klassik und zum Jazz hingezogen fühlt.

Es geht freilich auch um das Trügerische von Fakten und Träumen, um sonderbar fehlgehende Verabredungen, plötzliche Selbstmorde oder zwischenzeitliche Risse im Gedächtnis. Mehrmals erfahren Personen jähe Erinnerungslücken. „Es ist, als würde man auf die dunkle Seite des Mondes gehen und mit leeren Händen zurückkehren“, lautet da einer der inmitten lässiger, alltäglicher Plaudertöne einschlagenden poetischen Hammersätze.

Die acht Erzählungen spielen mit manchmal nur schemenhaften, dann wieder blitzartigen Inbildern erster früher Liebschaften, mit realen oder erfundenen Gedichten, mit der Leidenschaft für einen recht mittelmäßigen, selbst bei seinen Heimspielen vor nur halb leeren Rängen spielenden Baseballclub. Ein andermal beschwört Murakami die Beziehung mit einer Frau, die ihn äußerlich abzustoßen scheint, doch mit der sein Erzähler die schier obsessive Hingabe an sämtliche verfügbare Konzertaufnahmen von Schuhmanns Klavierstück „Carnaval“ teilt. Worin das Motiv der Maskerade literarisch wie musikalisch mitklingt.

Alltagssprache und poetische Verdichtung

Wer gelegentlich auf dem Meer gereist ist, kennt vielleicht eine besonders tückische Seekrankheit, die einen befallen kann, obschon das eigene Schiff in fast spiegelglattem Wasser zu fahren scheint. Seekrank werden Passagiere trotzdem, wenn in der Tiefe des an der Oberfläche trügerisch ruhigen Meers noch Strömungen eines früheren Sturms nachwirken und unmerkliche Schwingungen unterm Schiffskiel auslösen.

Einen ganz ähnlichen Effekt erzeugt auch Murakamis Prosa. Wobei die Folge in diesem Fall eine lustvolle Lesesucht ist. An der Oberfläche wirkt vieles so lange trivial, bis es ins Magische eines fantastischen Realismus oder realistischen Fantasmas umschlägt. Das vermittelt sich einmal mehr in Ursula Gräfes zwischen fast stilfreier, bisweilen auch redundanter Alltagssprache und jäher poetischer Verdichtung kongenial changierender Übersetzung.

Der Schriftsteller kokettiert im Übrigen mit der eigenen Manier: „Sie sind der Autor, und ich frage nur ungern, aber worum geht es eigentlich in dieser Geschichte? Was ist das Thema?“, lässt er gedankenspielerisch seinen Lektor fragen. Dabei erörtert Murakamis Erzähler mit selbstreflexivem Witz, was wohl die Reaktion wäre, würde er aus dem gerade geschilderten Erlebnis eine Geschichte machen. Sie hätte womöglich weder einen Fokus noch eine Pointe.

Der Affe spricht

Murakamis Pointe in just dieser Geschichte, die „Bekenntnis des Affen von Shinagawa“ heißt, kommt kurz vor Schluss, als man nicht mehr mit ihr rechnet. Da ist das scheinbar Hauptsächliche längst passiert: Der Erzähler landet an einem Herbstabend in einem offenbar trostlosen japanischen Gebirgsort mit heißen Quellen in einer noch trostloseren Pension, deren Untergeschoss freilich ein überraschend gutes Thermalbad birgt. Dort gibt sich der Erzähler den Sprudeln und Dämpfen hin, bis er in seinem schläfrigen Dämmerzustand den diensthabenden Bademeister trifft. Dieser ist: ein sprechender Affe.

Auch hier denkt man an Kafka. Doch ohne jedes stilisierende Pathos wirkt die abendliche Begegnung gleichermaßen als Sensation wie als rührende Normalität. Der Affe rangiert als Arbeiter auf der untersten Sprosse der Sozialskala. Zudem kann er sich nur in Menschenfrauen verlieben.

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Geistermusik aus Bebop und Bossa Nova

Weil er dabei keine Partnerin findet, begnügt er sich damit, die Namen begehrter Frauen anstelle ihrer Körper und Seelen zu sammeln. Er stiehlt ihnen hierzu aus Handtaschen und Portemonnaies jeweils einen Ausweis, etwa den Führerschein. Worauf den Betroffenen zwischenzeitlich der eigene Name nicht mehr einfällt. Sie haben ein Stück ihrer Identität verloren.

Murakami hat als moderner Märchenerzähler bereits früher mit Gedächtnislücken und sprechenden Tieren gespielt. Doch die neue Erzählung ist so buchstäblich fabelhaft, weil sie ihre ganz eigene Vernunftlogik hat. Auch ihre nicht zu verratende unheimliche Pointe ergibt sich denkbar logisch – als man den sprechenden Affen schon längst vergessen glaubt.

Murakamis vielleicht schönste Erzählung heißt „Charlie Parker spielt Bossa Nova“. Der Erzähler, der jede Besetzung aller Parker-Stücke kennt und jede Phrasierung des virtuosen Jazz-Saxofonisten beschreiben kann, erfindet als junger Musikkritiker eine Bossa-Nova-Platte, die Parker, der vor allen Bossa-Nova-Hits schon verstorben war, nie hätte aufnehmen können. Doch die Fiktion, ein journalistischer Fake, liest sich hinreißend. Eine Geistermusik. Warum sollte sie nicht möglich sein, wo es bei Murakami doch auch das gibt: „Kreise, die viele Mittelpunkte haben.“ Man muss sie nur erkennen. Ganz schwindelfrei.

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