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Von ihm stammt die neue Fußball-Hymne: US-Sänger Neil Diamond singt auf der Pre-Grammy Gala.

© Chris Pizzello/Invision/AP/dpa

Englische Fußball-Hymne: Warum ausgerechnet „Sweet Caroline“?

Eine Neil-Diamond-Nummer von 1968 wird während der EM zum neuen Ohrwurm. Wie schafft sie das?

Hat man ihn erst einmal im System, gibt es kein Entrinnen. Wie ein atmendes Wesen macht er sich breit, expandiert zwischen den Schläfen und zieht sich langsam wieder zurück, aber nur, um den unfreiwilligen Gastwirt aufs Neue zu plagen, manchmal auch zu erfreuen. Ohrwürmer sind besondere Hits. Sticky songs, wie die Briten sagen.

Und die haben gerade gut reden. Grölen „Sweet Caroline“ in Wembley, in den Pubs, auf der Straße und wahrscheinlich auch im Schlaf. Die uralte Neil-Diamond-Nummer aus dem Jahr 1968 ist zur Hymne der englischen Fußballnationalmannschaft geworden, damit wollen sie an diesem Sonntag gegen Italien Europameister werden. Und aus vollem Halse mitsingen: „Good times never seemed so good“. Der Sieg gegen den hasenfüßigen Erzfußballgegner Deutschland, all das fühlt sich natürlich sehr gut an.

Das Lied war schon beim Football in den USA eine Stadionhymne und auch bei einigen kleineren Clubs der Premiere League. Es beginnt still und nachdenklich und steigert sich in einen vom Sänger selbst nicht für möglich gehaltenen Glücksausbruch.

dam-dam-dam und das Anschwellen zur Welle

Die Liebe wächst mit jedem Ton. Der Refrain lässt Raum zum Jubeln und Skandieren und Arme Schwenken, dam-dam-dam. Was „Sweet Caroline“ nun aber besonders sticky macht, ist dieses Crescendo, das Anwachsen der Emotion, der Begeisterung – das zeichnet schließlich eine Turniermannschaft aus. Die Steigerung, das Zusammenwachsen, das Anschwellen der Welle.

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Trotzdem bleibt es ein Rätsel. Warum Neil Diamond? „You Never walk Alone“ hat ja etwas mit Liverpool zu tun, jedenfalls war es ein Hit von Gerry & The Pacemakers, die vom River Mersey stammten. Ursprünglich stammt die Hymne, auf die auch die BVB-Fans schwören, aus dem Broadway-Musical „Carousel“, geschrieben von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein. Verschlungen sind die Wege der Ohrwürmer.

„Hands, touching hands/Reaching out, touching me,/ touching you“: Da kann man ja nur glücklich kapitulieren. Wer es nicht so mit den Engländern, dem Brexit und dem Clown in Downing Street 10 hat, setzt sich lieber „Una notte speciale“ von Alice oder „Azzurro“ mit Adriano Celentano in den Kopf.

Ohrwürmer werden nicht müde

Das Lied ist genauso alt und unwiderstehlich wie die Hommage an Caroline, in der manche die kleine Tochter des ermordeten Präsidenten John F. Kennedy erkannt haben. Aber das ist ein weiteres Charaktermerkmal großer Hymnen: Sie lassen Platz für die Fantasie und die Nachwelt.

Neil Diamond, in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden, kann wegen einer Parkinson-Erkrankung nicht mehr auftreten. Als er im Juni 2011 in der 02-Arena spielte, schnappte er sich die Herzen des Publikums mit einem genial einfachen Trick. Er sang „Sweet Caroline“ am rechten Bühnenrand. Badete im Applaus und ging auf die andere Seite der Bühne, um sich charmant zu entschuldigen: Da hat die eine Hallenhälfte gar nicht richtig mitschwofen können, also von vorn, Ohrwürmer werden nicht müde: „Sweet Caroline, dam-dam-dam“. Ein herausragender Songwriter und Entertainer, der mit Barbra Streisand in Brooklyn zur Schule ging und für die Monkees einen Welthit von ähnlichen Ausmaßen schrieb: „I’m a Believer“. Ja, sie glauben dran, Engländer wie Italiener.

Rüdiger Schaper

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