zum Hauptinhalt
Neue Verbindungen. Auf der Brücke der ambulanten Händler wurden Spielplätze für Kinder geschaffen.

© Lichterbeck

Eine prima Idee für Lima: Die Geier, die Stadt und das Theater

Das Festival „Changing Places“ öffnet prekäre Räume und verlassene Gebäude – diesmal in der peruanischen Hauptstadt Lima.

Ein Berg aus Fleischresten schwärt in der brennenden Sonne auf dem Dach eines Gebäudes im Zentrum der peruanischen Hauptstadt Lima. Rund 170 Kilo Schlachtabfälle hat das mexikanische Künstlerkollektiv Tres auf einer Art Altar aufgetürmt. „Den Geruch kriege ich wohl nie wieder aus der Nase“, sagt Tres-Mitglied Ilana Boltvinik.

Sie steht mit einem Feldstecher auf dem Dach des Literaturhauses, rund 250 Meter Luftlinie entfernt. Mit ihr sind Dutzende Besucher auf das historische Haus gestiegen, um zu sehen, was passiert. Zwischen den beiden Gebäuden strömt reißend der Rímac, Limas großer und stark verdreckter Fluss, der das teils prächtige und touristisch gut erschlossene historische Zentrum vom ärmeren, schmutzigeren und auch gefährlicheren Viertel Rimac trennt, wo das Fleisch liegt. Durch den Blick über den Fluss wollen Tres eine Verbindung zwischen den so ungleichen Stadtteilen herstellen, die beachtet und vergessen, chancenreich und chancenlos sind, ja, im Grunde zwei Limas und zwei Perus repräsentieren.

Die Vögel beseitigen den Müll

Die Idee hinter dem Projekt „Türme der Stille II“ war es, Geier anzulocken, diese für Lateinamerikas Städte so typischen Tiere, die sich als Allesfresser des Abfalls annehmen und sogar in Perus Wappen auftauchen, weil sie schon für die Ureinwohner eine Bedeutung in Opferritualen hatten. In Lima werden heute sogar trainierte Geier eingesetzt, um illegale Müllhalden aufzuspüren.

Es gibt nur ein Problem: Die Geier ignorieren das Fleisch, seit Tagen schon, und werden es auch bis zum Ende der Installation nicht anrühren, kreisen stattdessen zu Dutzenden im Aufwind darüber. Kann es sein, dass die Geier von den Abfällen Limas so gut genährt sind, dass sie die zusätzliche Nahrung gar nicht brauchen?

Diese Art von Scheitern ist immer eingeplant im ausgezeichneten Kulturprogramm „Changing Places / Espacios Revelados“ (sich wandelnde Orte / sichtbar gemachte Räume), das die deutsche Siemens-Stiftung alle zwei Jahre in einer anderen lateinamerikanischen Großstadt mit lokalen Kultureinrichtungen initiiert und dessen diesjährige Ausgabe vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist. Nach Buenos Aires, Santiago de Chile, Bucaramanga in Kolumbien sowie Guadalajara in Mexiko zog das Projekt nach Lima.

Neue Perspektiven für arme Viertel

Immer geht es darum, neue Perspektiven auf die Stadt und ihre vergessenen und unterprivilegierten Viertel und Bewohner sowie emblematische Gebäude zu eröffnen und neue Verbindungen zu schaffen. Die Stiftung lädt Künstler aus ganz Lateinamerika ein, ihre Ideen zu präsentieren. „Es ist essentiell, dass sie keine vorgefertigten Projekte vorlegen, sondern sie in Zusammenarbeit mit der örtlichen Bevölkerung entwickeln“, sagt Programm-Leiter Joachim Gerstmeier. Im besten Fall gelinge es so, ein neues Bewusstsein für den Stadtraum, seinen Nutzen und seine Möglichkeiten zu schaffen.

Gerade in Lateinamerika, dem Kontinent mit den weltweit tiefsten Gräben zwischen Arm und Reich, den höchsten Gewaltraten sowie unkontrolliert wachsenden Städten, ist diese Herangehensweise nicht nur einzigartig, sondern auch notwendig. Reiche und Arme leben heute in Lateinamerika in komplett unterschiedlichen Stadtuniversen, und es geschieht von politischer Seite nichts, um diese Fragmentierung aufzuhalten. Viele Städte wachsen ohne Rücksicht auf historische Kontexte und soziale Gegebenheiten. „Nach außen wuchern die Städte. Und in ihren Zentren werden öffentliche Räume privatisiert oder vom Kapitalismus und seiner Konsumlogik besetzt. Auch in Lima passiert das“, sagt Sergio Llusera, Direktor des Kulturzentrums der Universität des Pazifiks in Lima und einer der drei Kuratoren von „Changing Places“.

Die Künstler in Lima setzen dieser Entwicklung Interventionen im öffentlichen Raum entgegen, geben ihm so eine neue Bedeutung und Funktion und machen ihn für Menschen zugänglich, die sich beispielsweise zuvor nicht ins vermeintliche Schmuddelviertel Rimac trauten.

Endlich Spielzeug für die Kinder

Dass ein enormes Bedürfnis nach dieser Art von Stadterfahrung existiert, beweist der riesige Zuspruch zu den mehrstündigen Rundgängen. Viele Besucher sagen, dass sie dank der Kunst zum ersten Mal die historische Trujillo-Brücke über den Fluss Rimac überquerten und die andere Seite besuchten. Die Kunst als Vehikel und Brückenbauer.

Exemplarisch wird dieses Motiv aufgegriffen von dem peruanisch-italienischen Künstlerpaar Carmen Miraval und Michele Albanelli. Sie haben auf einer Fußgängerbrücke über den Rimac, auf der so gut wie jeder Quadratmeter von ambulanten Händlern besetzt ist und die täglich von Zehntausenden Pendlern zwischen Zentrum und Peripherie überquert wird, drei kleine rote Brücken mit Rutschen und Kletterwänden quer zur Laufrichtung aufgebaut. Das Projekt richtet sich an die Kinder der Händler, die ihren Eltern helfen müssen oder im Menschenstrom auf sich allein gestellt sind. Sie nehmen die Installation begeistert an.

Auch anderswo in Rimac äußern viele Menschen immer wieder den Wunsch, dass die Interventionen von dauerhaft sein sollten. Man fühlt sich ernst genommen und beachtet. Dabei hatte es zu Beginn des Projekts, dessen Planung sich wegen der Corona-Pandemie immer wieder verzögerte, große Skepsis und sogar Ablehnung gegeben. Die ambulanten Händler auf der Brücke fürchteten beispielsweise, dass ihnen die Kunst den ohnehin knappen Platzes rauben würde. „Eine übliche Frage der Menschen in Rimac war, was bringt uns das Ganze?“, sagt Kurator Sergio Llusera. „Durch den großen Zuspruch merkten sie dann, dass ihr Viertel durch die Interventionen einen Nutzen hat, der sich nicht in Zahlen messen lässt.“

Das Ende der Pandemie wir gefeiert

Besonders deutlich wurde dies bei der Arbeit des peruanischen Künstlers Gonzalo Fernández in einer traditionellen Markthalle in Rimac, die jedoch kaum mehr besucht wird und kurz vor der Schließung steht, weil immer mehr Menschen Supermärkte bevorzugen oder sich nicht über die Brücken nach Rimac trauen. Um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, mietete Fernández, der indigener Herkunft ist und sich als eine Art Volkskünstler versteht, mehrere Wochen lang einen Stand und wohnte dort. Seine farbenprächtige Performance, die sich um eine Madonnenfigur dreht, ist eine Hommage an die Marktfrauen und zieht viele Menschen in die Markthalle.

Der Künstler Juan Osorio holt mit einer Soundinstallation auf der Trujillo-Brücke all die Stimmen der Vögel zurück, die einst am Ufer des Rimac-Flusses lebten, heute aber verschwunden sind. Und drei peruanische Künstlerinnen sprachen über Monate hinweg mit einem Dutzend alter Frauen eines selbstverwalteten Frauen-Hospizes und sammelten ihre Geschichten. „Das Besondere daran war, dass alle diese Frauen Lebensläufe hatten, die von der Norm in Lateinamerika abwichen. Frauen etwa, die nicht heiraten wollten und keine Kinder kriegen“, sagt die Künstlerin Natalia Iguiñiz. Daraus entstand eine Ton-Installation in einem verlassenen historischen Gebäude im alten Zentrum Limas.

Den Abschluss wird von der delierischen Straßenaufführung eines der bekanntesten Theatermacher Perus, Miguel Rubio, und seiner Truppe Yuyachkani gebildet. Sie inszenieren einen berühmten Text von César Vallejo. „Das Theater ist ein Traum“, lautet dessen erster Satz. Hunderte begeisterte Zuschauer wohnen dem Spektakel bei und tanzen anschließend noch auf der Straße, feiern die auslaufende Corona-Pandemie, das Leben und die Kunst.

Zur Startseite