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Welches dunkle Geheimnis lauert hinter diesem unschuldigen Gesicht? Humphrey Bogart in der Rolle des Philip Marlowe befragt Martha Vickers.

© imago images / United Archives

Die Krimis von Raymond Chandler: Er hielt Frauen für gefährlicher als Gangster

Der große Literaturtheoretiker Fredric Jameson rückt den Werken von Raymond Chandler analytisch zu Leibe.

Als der Regisseur Howard Hawks und sein Hauptdarsteller Humphrey Bogart „Tote schlafen fest“ drehten, gerieten sie über die Frage in Streit, wer einen Chauffeur umgebracht habe. Sie schickten ein Telegramm an Raymond Chandler, auf dessen Roman „Der große Schlaf“ der Film basierte. Seine Antwort: „Keine Ahnung“.

Die Geschichte gehört zu den meistzitierten Hollywood-Anekdoten. Sie kommt auch in dem Buch vor, das der amerikanische Literaturtheoretiker Fredric Jameson Chandler widmet. Der Witz daran ist, dass selbst der Autor den Überblick über seinen kompliziert verschachtelten Plot verloren hatte. Doch die Konfusion, sagt Jameson, hat bei Chandler Methode.

Weil es ihm weder auf den Plot noch auf Plausibilität ankommt. Manchmal, so Jameson, rücke der Schriftsteller die Unwahrscheinlichkeiten der Handlung so aggressiv in den Vordergrund, dass er die Leser:innen provoziere, „das Buch ungläubig von uns zu werfen“. Von klassischen Detektivgeschichten, die aus einer Kette von Schlussfolgerungen bestehen, hat Chandler nichts gehalten. Den Kreuzworträtsel-Charakter der Whodunit-Krimis von Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle verachtete er.

Chandler verstand sich in erster Linie als Stilist. Eine Haltung, die aus seiner Biografie entsprang. Er war zwar in Chicago geboren worden, verbrachte aber vom achten Lebensjahr an seine Schulzeit in England. Laut Jameson habe Chandler deshalb ähnlich wie Nabokov in einer „geborgten Sprache“ geschrieben: „Seine Sätze sind Collagen aus heterogenen Materialien, eigenartigen Sprachschnipseln, Redefiguren, Redensarten, lokalen Bezeichnungen und Sprüchen, alles mühevoll zusammengefügt zu einer vermeintlich zusammenhängenden Rede“.

Genau das macht die Modernität seiner sieben Romane und zwei Dutzend Kurzgeschichten aus. Jameson nennt ihn einen „Maler des American life“. Was Raymond Chandler über sein Vorbild Dashiell Hammett gesagt hat, gilt genauso für ihn: „Er zog den Mord aus der venezianischen Vase und ließ ihn auf die Straße fallen.“ Mit dem Schreiben hatte Chandler erst spät angefangen. Als sein erster Roman „Der große Schlaf“ 1939 herauskam, war er bereits 50 Jahre alt. Zuvor hatte er es in Los Angeles bis zum Direktor einer Ölgesellschaft gebracht, ein Job, den er 1932 durch die Weltwirtschaftskrise verlor.

Er bekam ein Cent pro Wort als Honorar

Seine literarische Technik entwickelte er, indem er die Detektivgeschichten anderer Autoren nachahmte und umarbeitete. Eine Vorgehensweise, die dem Übersetzen von Cicero-Texten ins Englische glich, das zu seinem Studium am Dulwich College in London gehört hatte.

Chandler veröffentlichte seine erste Kurzgeschichte „Blackmailers Don’t Shoot“ 1933 im Pulp-Fiction-Magazin „Black Mask“. „Black Mask“ besaß unter den Groschenheften, die sich mit Verbrechen beschäftigten, ein gewisses Renommee, es brachte Autoren wie Dashiell Hammett, Erle Stanley Gardner oder Raoul Whitfield hervor und wurde angeblich sogar von Präsident Woodrow Wilson gelesen.

[Fredric Jameson: Raymond Chandler. Ermittlungen der Totalität. Aus dem Englischen von Horst Brühmann. Konstanz University, Konstanz 2021. 160 Seiten, 18 €.]

Der Konkurrenzkampf unter den rund 1000 Pulp-Autoren in den USA war groß, nur die besten von ihnen – Chandler gehörte bald dazu – bekamen für ihre Geschichten das immer noch magere Honorar von einem Cent pro Wort. Herausgeber Joseph T. Shaw erwartete von ihnen „Einfachheit als Ausdrucksmittel für Klarheit“. Nichts sollte ablenken von der Action.

Chandler hat viele seiner Beiträge später umgearbeitet in seine Romane übernommen, ein Grund für deren episodischen Charakter. Darunter, dass viele seiner abschweifenden Passagen gestrichen wurden, mit der Begründung, sie hielten bloß die Handlung auf, hat er gelitten. „Meine Theorie ging dahin“, so Chandler, „dass die Leser nur dachten, sie interessierten sich für nichts als die Handlung; dass sie in Wirklichkeit aber, obwohl sie’s nicht wussten, genau an dem interessiert waren, was mich auch interessierte: an der Entstehung von Gefühl durch Dialog und Beschreibung.“

Chandlers Frauenbild ist misogyn

Chandlers Beschreibungsfuror macht für Jameson den Kern von dessen Kunst aus. Brillant ist, wie der marxistisch geprägte, inzwischen 87-jährige Doyen der US-Literaturtheorie die Auftaktkapitel von „Der große Schlaf“, den er für Chandlers besten Roman hält, analysiert. Schon am Dekor der Räume und an den Blicken der auftretenden Figuren lässt sich der weitere Verlauf der Geschichte ablesen – wenn man sie wie Jameson zu dekodieren weiß. General Sternwood hat Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe engagiert, weil er wegen der Spielschulden seiner Tochter Carmen erpresst wird.

Ein Offiziersporträt an der Wand verweist auf die gewaltsame Entstehungsgeschichte Kaliforniens im Mexikokrieg. Und Carmens ausdruckslose Augen transportieren die Botschaft einer erloschenen Leidenschaft und pathologischen Sexualität. Chandlers Frauenbild ist, da unterscheidet er sich nicht von den meisten anderen Pulp-Autoren, misogyn. Von Frauen geht für Marlowe größere Gefahr aus als von den Gangstern, die ihm nach dem Leben trachten.

Die Spur des Blutvergießens ist bei Chandler meist eine falsche Fährte. Jameson spricht von „Köderspielen“, Chandler selbst von der „falschen Nuss“, die er dem Leser zu knacken gibt, um ihn auf einen Seitenweg zu führen, das „mit dem Hauptproblem nur lose zusammenhängt“. So ist Sternwoods Schwiegersohn, den Marlowe in „Der große Schlaf“ sucht, zum Beginn der Handlung bereits tot. Um den Fall zu lösen, muss der Detektiv in die Eingangshalle der schlossartigen Familienvilla zurückkehren. Ein Muster, das sich in den späteren Romanen wiederholt, von denen Jameson „Lebwohl, mein Leben“, „Das hohe Fenster“ und „Die Tote im See“ einen kanonischen Rang zuspricht.

Schweres linguistisches und philosophisches Besteck

Modern und vielleicht sogar avantgardistisch sind sie für ihn deshalb, weil das dort beschriebene Los Angeles als Mikrokosmos die Realität der fünfziger und sechziger Jahre vorwegnimmt: „Eine neue Stadt ohne Zentrum, in dem die verschiedenen Klassen die Berührung miteinander verloren haben, weil jede in ihrem jeweiligen geographischen Abteil isoliert ist.“ Zwischen ihnen bewegt sich Marlowe als „Sozialforscher wider Willen“. Mit diesem Gedanken knüpft Jameson an Überlegungen von Siegfried Kracauer und Walter Benjamin zum Detektivroman aus den zwanziger Jahren an, ohne sie namentlich zu erwähnen.

Der Literaturwissenschaftler arbeitet mit schwerem linguistischem und philosophischem Besteck. Manchmal ist es mühevoll, ihm zu folgen, etwa, wenn er Chandlers Gegenüberstellung von Stadt und Natur mit Heideggers dualistischem Denken in der Aufsatzsammlung „Holzwege“ vergleicht.

Doch wenn, wie im „Tiefen Schlaf“, so viel Energie für die Suche nach einem Vermissten verschwendet wird, der bereits „ein Vorgang der langsamen physischen Zersetzung“ ist, schlussfolgert Jameson bravourös, dann ist das letzte Geheimnis von Chandlers Erzählen die „Öffnung auf die Nicht-Welt hin, auf ihren Rand und ihr Ende in der Leere“. Hartgesottener als der Tod kann kein Krimi sein.

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