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Mit Regisseurin Julia Ducournau (mitte) freuen sich Agathe Rousselle und Vincent Lindon, die die Hauptrollen in „Titane“ spielen.

© Sarah Meyssonnier/rtr

Bilanz Cannes Filmfestival: Die Goldene Palme für den Horrorfilm „Titane“ ist der Beginn einer Ära

Julia Ducournau gewinnt als erst zweite Regisseurin den Hauptpreis. Das holprige Cannes-Comeback endet durch weise Jury-Entscheidungen versöhnlich.

Von Andreas Busche

Bilder, die vom 74. Filmfestival in Cannes bleiben werden. Eine ausgezehrte junge Frau mit einer dekorativen Wunde am Kopf, aus deren Brüsten Motoröl tropft. Ein lasziver Poledance auf dem Dach eines Leiterwagens vor einer zunehmend verstörteren Gruppe von Feuerwehrmännern. Bondage-Sex mit einem Auto. Ein Schatten von einem Mann, äußerlich aufgepumpt und innerlich leer, der sich Hormonspritzen in den Hintern jagt.

Es ist nicht die übliche Cannes-Ware, die Julia Ducournau mit ihrem zweiten Spielfilm „Titane“ im Wettbewerb präsentiert. Darum ist es umso sensationeller, dass die Jury um Spike Lee der französischen Regisseurin am Samstagabend bei der Preisverleihung im Grand Théâtre Lumière die Goldene Palme verliehen hat – als zweiter Frau überhaupt und 28 Jahre nach Jane Campion, von der mit diesem Preis ebenfalls eine Bürde abfällt: die des ewigen Cannes-Maskottchens wider Willen.

Spike Lee und seine Jury haben geschafft, woran viele andere Cannes-Jurys in den vergangenen Jahren gescheitert sind: nicht nur eine Regisseurin, sondern auch einen Film auszuzeichnen, der nach dieser Zäsur durch die Pandemie dem Kino plötzlich neue Möglichkeiten eröffnen könnte, ähnlich wie vor zwei Jahren der Preis für Bong Joon-hos „Parasite”.

Körperhorror und Identitätsfragen

„Titane“ gehörte auch deswegen zu den heimlichen Festival-Favoriten, weil er dahin geht, wo sich heute nur wenige Filme hintrauen: Bilder, die körperliche Schmerzen bereiten, bei aller Drastik aber eine tiefe Verletzlichkeit offenbaren, je weiter sich die Figuren von ihrer Umwelt isolieren. Agathe Rousselle spielt eine blutrünstige junge Frau mit einem Autofetisch, die sich – zwischen Trauma und neurologischen Störungen – erst in einen Jungen und schließlich in etwas faszinierend Transhumanes verwandelt.

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Wie Ducournau in ihrem Film Körperhorror mit Gender- und Identitätsfragen kurzschließt und gleichzeitig ein berührendes Vater-Sohn-Drama (auch dank der gebrochenen Virilität von Vincent Lindon) mit blutigem Gore, lässt alle Konventionen des Genrekinos hinter sich. Damit steht „Titane“ der feministischen Regisseurin Claire Denis näher als einem David Cronenberg. Er ist das Werk einer radikalen Autorin, die schon mit ihrem Debüt, dem kannibalistischen Liebesfilm „Grave“, in  Cannes für Furore sorgte.

Mit der Goldenen Palme für „Titane“, die Spike Lee gleich zu Beginn der Verleihung versehentlich ausplauderte, ist auch eine zentrale Frage beantwortet, die das diesjährige Cannes-Festival – nach der abgesagten Ausgabe 2020 und einem Kino-Shutdown, der die internationale Filmproduktion lähmte – zu beantworten versuchte: In welche Richtung entwickelt sich das Kino nach der Pandemie und dem Boom der Streaminganbieter?

Und welche Rolle wollen die Filmfestivals in dieser Entwicklung einnehmen? Ein Urteil war auch deswegen so schwierig, weil das 2021er-Programm von Cannes noch eine Momentaufnahme vor der Pandemie abbildet.

Welche Bilder hinterlässt die Pandemie?

Eine seltsame Ungleichzeitigkeit zog sich durch den Wettbewerb, in dem Überbleibsel aus dem abgesagten Jahrgang 2020 neben neueren Produktionen standen. Filme wie Ryusuke Hamaguchis dreistündiger „Drive My Car“ oder Joachim Lafosses „Les intranquilles“ gehörten zu wenigen Ausnahmen, in denen Schutzmasken zu sehen waren. Festival-Leiter Thierry Frémaux mag recht darin haben, dass die Pandemie kaum Spuren in Bildern hinterlassen wird, weil Gesichtsmasken das Kino um einen wesentlichen Ausdruck berauben. Wie sich Filme künftig mit der Pandemie auseinandersetzen, könnte allerdings symptomatisch für den Realitätsbezug des Kinos sein.

Spike Lee hat geschafft, was vor ihm bisher nur dem Jurypräsidenten Louis Malle gelang.
Spike Lee hat geschafft, was vor ihm bisher nur dem Jurypräsidenten Louis Malle gelang.

© REUTERS

Ein komisches Gefühl überwog in den vergangenen zwei Wochen: Die diesjährige Ausgabe stellt vor allem eine Machtdemonstration dar. Die Fülle an renommierten Namen aus dem Autoren- und Arthousekino hatte eine verschwenderisches Maß erreicht, es schien Festivalleiter Thierry Frémaux nur noch um schiere Verdrängung der Konkurrenz in Berlin und Venedig zu gehen.

Er tat damit weder dem Festival noch den Filmen einen Gefallen. Etablierte Namen wie Nanni Moretti, Bruno Dumont, die Bären-Gewinnerin Ildikó Enyedi und Sean Penn waren mit ihren schwächsten Filmen im aufgeblasenen Wettbewerb vertreten, Regisseur:innen mit formal interessanten Filmen wie Kornél Mundruczó, Andrea Arnold (ein Dokumentarfilm über die landwirtschaftliche Verwertungskette, aus der Perspektive einer Kuh) und Gaspar Noé, der dem Horror-Impresario Dario Argento eine zärtliche Altersrolle schenkte, wurden dagegen in nachrangigen Programmreihen geparkt.

Laxer Umgang mit der Maskenpflicht

Diese Cannes-Hybris setzte sich unmittelbar in der äußerst laxen Umsetzung der in Frankreich ohnehin lockeren Corona-Maßnahmen fort. An der Croisette scheinen andere Regeln zu gelten, die Stimmung in den Sälen war entsprechend gereizt. Von einer Euphorie war selten etwas zu spüren. Zwischenrufe, bitte die Masken aufzusetzen, waren während der Vorführungen öfter zu hören. Aber warum sollte das Publikum die Durchsagen ernst nehmen, wenn der Cannes-Chef auf dem roten Teppich selbst mit schlechtem Beispiel vorangeht? Daran änderte auch die Absage der geimpften Léa Seydoux nichts, die sich in Paris in die Quarantäne begeben musste.

Starstelldichein der Stars: Regisseur Wes Anderson, Tilda Swinton, Bill Murray und Benicio del Toro aus "The French Dispatch".
Starstelldichein der Stars: Regisseur Wes Anderson, Tilda Swinton, Bill Murray und Benicio del Toro aus "The French Dispatch".

© dpa

Die Unwucht eines Wettbewerbs lässt sich schlussendlich wohl nur durch kluge Jury-Entscheidungen kompensieren. Spike Lee, Maggie Gyllenhaal, Kleber Mendonça Filho, Mati Diop, Jessica Hausner & Co haben hier sehr Vieles richtig gemacht, was man nach zu häufigen fragwürdigen Cannes-Entscheidungen in den vergangenen Jahren gar nicht hoch genug bewerten kann. Sie haben genau die richtige Mischung aus klassischem Autorenkino und den wenigen, aber umso prägnanteren filmischen Experimenten ausgezeichnet.

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Den Preis der Jury teilen sich Apichatpong Weerasethakuls delirantes Solostück „Memoria“ für eine umwerfende Tilda Swinton, die an der Croisette in diesem Jahr wieder omnipräsent war, und Nadav Lapids Tour de Force „Ahed’s Knee“ durch israelisches Grenzgebiet. Filme, die mit einer originären Vision von Kino überzeugen, waren in der Minderheit, darum brauchte das Festival solche Akzente der Jury, um dem allzu homogenen Eindruck des Wettbewerbs entgegenzuwirken und die Stärken der Auswahl herauszuarbeiten.

Dominanz statt ästhetische Verfeinerungen

Insofern hat die Jury mit dem meisterlichen Moralstück „A Hero“ des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi und Ryusuke Hamaguchis sehr konzentrierter, sehr ernsthafter Murakami-Verfilmung „Drive My Car“, die Einsamkeitsstudie eines (schon wieder!) Autofanatikers, zielsicher die beiden besten Vertreter eines klassischen Erzählkinos herausgepickt, das in diesem Jahr unverhältnismäßig stark im Wettbewerb vertreten war.

Dass schließlich auch noch der immer ein wenig unberechenbare Leos Carax mit seinem Art-Pop-Musical „Annette“ den Regiepreis gewann, ist nicht nur eine kleine Verneigung vor einem der exzentrischsten Franzosen der Gegenwart, sondern auch vor großem Starkino (Adam Driver und Marion Cotillard als toxisches, singendes Promi-Ehepaar), das sonst nur noch Wes Anderson mit seinem Ausstattungsfilm „The French Dispatch“ bediente – allerdings leer ausging.

So endet das Festival, das einen Neubeginn markieren sollte, am Ende doch versöhnlich. Cannes’ Hegemonialanspruch, bei dem es längst nicht mehr um ästhetische Verfeinerungen oder eine Spurensuche nach neuen Erzählformen geht, sondern um schiere Dominanz, wirkt heute unzeitgemäß. Die Jury hat das Beste aus dem Angebot herausgeholt – und mit ihren Entscheidungen auch eine andere Tendenz in der Filmindustrie, die bereits bei der Berlinale zu beobachten war, notdürftig korrigiert: 18 von 24 Filmen im Wettbewerb kamen aus Europa.

Sollte dieser Cannes-Jahrgang tatsächlich ein repräsentatives Bild der internationalen Produktion abgeben, steht zu befürchten, dass die Pandemie die entlegenen Regionen des Weltkinos weiter abhängen könnte. Diese Entwicklung wäre besorgniserregend. Mit solch einer eurozentrischen Perspektive würden die Festivals die künstlerische Strahlkraft des Kinos – im Vergleich mit den Globalstrategien von Netflix, aber auch jüngeren Diskursen in der zeitgenössischen Kunst – unterminieren.

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