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Boxenstopp. Szene mit Jeremy Mockridge, Astrid Meyerfeldt, Katrin Wichmann und Sophie Rois. Foto: Arno Declair

© Arno Declair

Berliner Pilotprojekt Testing: René Polleschs Uraufführung „Goodyear“

Es geht wieder los – drinnen! René Polleschs Uraufführung „Goodyear“ am Deutschen Theater ist gelungener Slapstick.

Höchst diszipliniert geht es zu auf den Vorplatz des Deutschen Theaters Berlin. Wo normalerweise präperformatives Grüppchenbildungsgewusel herrscht, wo letzte Spekulationen über die Spieldauer ausgetauscht und vage Pausenverabredungen getroffen werden, haben sich, in gebührendem Abstand zu- und untereinander, zwei Menschenschlangen formiert: links die Karteninhaberinnen fürs Parkett, rechts die Ticketholder für den Rang.

Statt aufeinander zuzustürzen, nicken und winken alte Bekannte sich gediegen aus der Distanz zu. Das kulturbürgerliche Understatement funktioniert – erste Erkenntnis des Abends – auch nach siebenmonatiger Abstinenz reibungslos. Bloß gut, dass sich die Vorfreude – endlich wieder Theater in Innenräumen! – unter dem Mund-Nasen-Schutz so branchencool bemänteln lässt!

Ja, Maskenpflicht herrscht bereits draußen, im unmittelbaren DT-Einzugsgebiet. Als Zutrittsbedingung ist auf der Schwelle zum Haus dann außer der Eintrittskarte ein tagesaktueller Negativtest nebst Personalausweis vorzuweisen, kontrolliert wird doppelt, jedenfalls am Premierenabend.

Ausgedehnter Kollektiv-Slapstick

So sieht es also aus, das Berliner Pilotprojekt Testing Perspektive Kultur, das bereits im März begonnen worden war, dann aufgrund der hohen Fallzahlen wieder ausgesetzt werden musste und jetzt erwartungsfroh mit einer Uraufführung von René Pollesch fortgesetzt wird, die, der Sache irgendwie angemessen, den schön interpretationsoffenen Titel „Goodyear“ trägt.

Davon, dass Christine Groß, Astrid Meyerfeldt, Jeremy Mockridge, Sophie Rois und Katrin Wichmann zu Beginn des Abends als trauerschwarz kostümierte Berlin-Mitte-Witwen an der Rampe sitzen, sollte man sich keinesfalls irritieren lassen.

Depressiv ist der Abend tatsächlich ganz und gar nicht. Im letzten Drittel schwingt sich der reichliche Einstünder sogar zu einem ausgedehnten Kollektivslapstick auf, der mal eben im Zeitraffer sämtliche dramatischen Ausdrucksformen nachholt, die monatelang unterdrückt werden mussten.

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Sophie Rois schlägt unter kunstvoller Einhaltung der Distanzregel wiederholt ihren Kollegen Jeremy Mockridge zu Boden, der den unfreien Fall seinerseits durchaus zu genießen scheint. Katrin Wichmann lässt sich als Cheerleader Girl sogar zu einem übermütigen Radschlag hinreißen, und Astrid Meyerfeldt spuckt noch Minuten nach dem ultimativen Highlight der Szene, einem Rois’schen Tortenwurf ins Mockridge-Gesicht, frohgemut Kunstzähne auf den Bühnenboden.

Gecruist wird im Damenschuh

Von Krise und Entschleunigung also keine Spur auf der Bühne. Zelebriert wird, im Gegenteil, vor einem von Barbara Steiner kreierten Kitsch-Schäfchenwolkenvorhang in vollen Zügen das Leben und irgendwo auch das zugehörige Sterben auf der Überholspur.

Aus den Witwenkleidern heraus geht es in den Rennfahrerlook hinein. „Goodyear“ meint auf der ersten, unmittelbarsten Ebene tatsächlich die gleichnamige Reifenfirma.

Der österreichische Formel-1-Pilot Jochen Rindt, der 1970, beim Training zum Großen Preis von Italien, in Monza tödlich verunglückte und aufgrund seines Punktevorsprungs in jener Saison posthum Formel-1-Weltmeister wurde, entpuppt sich als wichtiger Bezugspunkt des Abends – wiewohl auf der Bühne mitnichten in automobilartigen Gefährten herumgecruist wird, sondern in einem überdimensionalen, blinkenden Damenschuh.

Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ist dabei mindestens so deutungsflexibel wie der Abendtitel „Goodyear“ selbst.

Fest steht allerdings, dass der Rennfahrer an und für sich als begehrtes schauspielerisches role model gilt, jedenfalls für die Ausnahmeakteurin Rois, die unmissverständlich zu Protokoll gibt, dieses Darstellungsfach bis auf Weiteres nicht mehr verlassen zu wollen.

Von wem auch sonst ließe man sich derart gern im schönsten österreichischen Macho-Slang erklären, warum der idealtypische Autofahrer angeblich reihenweise dauerweiche Frauenknie verursacht? Klar doch, weil: „Der war ein wirklich absoluter Typ in sich selber schon, dann mit dem Nimbus noch … unglaubliche Siege zu feiern, war der schon ein Typ, den man sich merkt.“ So viel Gaga-Spaß macht Genderstereotypenzerlegung selten.

Schrecklicher als gedacht

Womit denn auch ein normalerweise hundertprozentig zutreffendes Katrin- Wichmann-Bonmot en passant in aller Lässigkeit ausgehebelt wäre: „Wenigstens ist auf eines im Leben Verlass: auf Klischees. Alles ist immer noch schrecklicher, als man es sich gedacht hat.“

Pollesch wäre natürlich nicht Pollesch, wenn die Rennfahrer-Boulevardeske nicht mindestens punktuell mit (psychoanalytischen) Theorieinspirationen à la Slavoj Zizek verknüpft wäre: „Liebe deinen Nächsten? Nein danke“, wird diesmal im Programmheft ein über zwanzig Jahre alter Text zum Abend empfohlen, noch aus den Neunzigern, an dem entlang über Neurosen, Begehren und Beischlaf diskutiert und alles selbstredend mit der eigenen Profession kurzgeschlossen wird: „Es gibt keine Repräsentation des Kopulationsaktes, die uns direkt anmachen würde.“

Pollesch im Rennfahrer-Gestus unterwegs ins letzte Jahrtausend? Nicht wirklich. Textpate für den Abend stand auch die französische Fernsehserie „Call My Agent!“ von 2015, die in einer fiktiven Pariser Schauspielagentur spielt und der wir offenbar jede Menge mehr oder weniger tiefsinniges Geplänkel darüber verdanken, wie man die Figur kriegt, die man spielen soll, ob man eher vollständig in sie hinein- und wieder aus ihr heraus- oder besser immer gleich mit einem Bein in ihr stecken bleiben soll. Und, ganz wichtig, wie sinnvoll es eigentlich ist, an seinem Text festzuhängen „wie an Privateigentum“.

Pollesch geht zurück an die Volksbühne

„Goodyear“ ist ein extrem leichtfüßiger Abend. Keiner, der wie die beiden Vorgänger-Polleschs im DT mit Brechts (Lehrstück-)Theorie über grundsätzliche Darstellungsmodi und vergangene Revolutionen nachdenkt, sondern eher eine Gute-Laune-Offensive, die die Rückkehr auf die Bühne an und für sich feiert. „Wollen Sie Tee?“, fragt Mockridge seine Kollegin Rois auf den letzten Metern des Abends. „Nein“, gibt die in ihrem unverwechselbaren Tremolo zurück. „Ich will Musik, ich will Liebe und Schönheit.“

[ Nächste Vorstellung am 30. Mai].

Es ist Polleschs Abschiedsabend am DT, bevor er im Herbst an die Berliner Volksbühne zurückwechselt, als Intendant. Als sich die Schauspielerinnen und Schauspieler am Schluss verbeugen, wird minutenlang geklatscht und sogar eine Rose aus dem Zuschauerraum geworfen.

Auch das dezimierte Publikum – jeder zweite Platz bleibt selbstredend frei – schafft einen angemessen hohen Beifallsgeräuschpegel. Und oben, an der Rampe, wird gestrahlt, gehüpft, gefeiert. So könnte es jetzt an den anderen Häusern ruhig weitergehen, demnächst, sofern die Zahlen nicht wieder steigen. Auch Thomas Ostermeier an der Schaubühne und Frank Castorf am Berliner Ensemble gehen im Juni wieder ins Rennen. Hoffentlich mit den richtigen Reifen.

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