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Autogrammjäger belagern bei der Berlinale 1955 den Schauspieler Mario Pezzano.

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Berlin-Buch „Surreal-Welten“: Der Krieg ist aus, der Tag leuchtet

Trümmer und Träume: ein Buch mit wiederentdeckten Texten aus dem Berlin der Nachkriegsjahre.

Es war die Befreiung, aber die Besiegten begegneten ihr mit gemischten Gefühlen. Die sogenannte Stunde Null begann in Berlin am 2. Mai 1945 mit der Kapitulation der deutschen Truppen, sechs Tage bevor auch im Rest des Deutschen Reiches die Waffen schwiegen. Die Hauptstadt, von der der Krieg ausgegangen war, lag in Trümmern.

„Jahrelang haben wir in der täglichen Angst vor bekannten und unbekannten Drohungen gelebt, vor neuen Maßnahmen, vor dem Blockwalter, den Erfassungen, den Alarmen“, notiert Karla Höcker am 7. Mai 1945. Ihre bange Frage lautet: „Und jetzt?“ Karl Friedrich Borée macht sich zwei Tage später, am 9. Mai, in Heinersdorf zu Fuß auf den Weg nach Charlottenburg.

Sein Weg führt durch Asche

Sein Haus ist zerstört, ausgebrannt bei den letzten Kämpfen. „Ich watete in Asche. Von allem, was bis zur Decke hinauf gestapelt war, entdeckte ich nur noch das eiserne Gestell eines Bettes.“ Trotzdem spricht Borée von einem „schönen Tag“. Der Frieden wiegt für ihn schwerer als die materiellen Verluste. Auf dem Rückweg legt er sich in der Jungfernheide in die Sonne und isst den Rest seines Proviants: Kartoffelsalat, etwas Brot und Ersatzkaffee.

[Erhard Schütz (Herausgeber): Surreal-Welten. Berlin in der Nachkriegsprosa 1945-1955. B &S Siebenhaar Verlag, Berlin 2021. 254 Seiten, 25 €]

„Da leuchtete blau der Mittag.“ So beschreibt Annemarie Weber den Moment, in dem die Bewohner eines Mietshauses nach Tagen im Bombenkeller mit erhobenen Händen heraustreten auf die Straße. Sie blicken in Gesichter sowjetischer Soldaten, die „offen und froh“ aussehen, sich von den Physiognomien der „Untermenschen“ aus der NS-Propaganda unterscheiden. Es kommt zu massenhaften Vergewaltigungen, auch die Protagonistin von Webers Geschichte wird zum Opfer. Sie rettet ihre Selbstachtung, indem sie sich sagt, es geschehe ihr „etwas Nebensächliches, des Tränenvergießens nicht wert“.

Gemüseanbau am Brandenburger Tor

Die Auszüge aus Höckers Tagebuch und den Romanen „Frühling 45“ von Borée und „Westend“ von Weber finden sich in der Anthologie „Surreal-Welten“, zu der neben 35 Texten auch zwei Dutzend Fotos gehören. Trümmerfrauen und -männer räumen Schutt beiseite, vor dem zerschossenen Brandenburger Tor wird Gemüse gepflanzt, Kinder baden am Reichstagufer.

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Die ersten Beiträge sind lakonische Berichte, es geht um vergangene Schrecken und das Wunder des Überlebens. Später lockert sich die Sprache, Berlin wird zum Schauplatz neuer ideologischer Kämpfe, die Teilung beginnt. Ingeborg Wendt spitzt das Tohuwabohu aus überfüllten Omnibussen, vollgepackten Schaufenstern und Zeitungsschlagzeilen über den Korea-Krieg satirisch zu: „Auf zum Sechstagerennen, denn das Sechstagerennen ist Berlin.“ Dieter Meichsner erzählt von der „erregenden Stadt“, in der es sich reibt, „sich stößt und vereinigt“.

Man liest sich schnell fest in den Texten, auch wenn die meisten Autoren vergessen sind. „Surreal-Welten“ ist Teil einer verdienstvollen, auf zehn Bände angelegten Reihe mit Berlin-Prosa aus den letzten 110 Jahren. Romane, die sich nach 1945 auf die unmittelbare Gegenwart einließen, waren „höchst selten“, bemerkt Erhard Schütz im Nachwort. Oft stammten sie, so der Herausgeber, von „journalistisch Versierten“. Heute sind sie Dokumente der Zeitgeschichte – und eine lohnende Lektüre.

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