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Friedrich Dürrenmatt, 1980 mit seinem Kakadu Lulu.

© ullstein bild/ Getty Images

100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt: Die Phantome des Uhrmachers

Im wilden kreativen Durcheinandertal eines großen Schweizer Schriftstellers: Zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt.

Egal welchen Menschen gegenüber man in den vergangenen Tagen den Namen Friedrich Dürrenmatt erwähnte, die Reaktion war bei allen dieselbe: „Den habe ich in der Schule gelesen“. Dann nannte der eine „Die Physiker“, die andere „Der Tunnel“ oder „Die Panne“; auch die Kriminalromane „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ gehörten zu den Spontannennungen, und die meisten Erwähnungen bekam natürlich „Der Besuch der alten Dame“.

Die Theaterstücke und Prosawerke des Schweizer Schriftstellers und Dramatikers, der vor 100 Jahren in der Emmenthaler Gemeinde Stalden als Sohn eines Pfarrers geboren wurde, gehörten von den sechziger bis zu den späten achtziger Jahren zum literarischen Kanon, sie waren im deutschsprachigen Raum Pflichtlektüre in gymnasialen Schulklassen.

Was jedoch ebenfalls von all denen, die Dürrenmatt in der Schule gelesen hatten, gesagt wurde: Der ist doch überholt und vergessen! Liest den noch jemand, hat er noch eine Bedeutung? Tatsächlich scheint es eine Ewigkeit her zu sein, dass die genannten Titel Dürrenmatt zu einer Weltberühmtheit gemacht haben, sein Name am Broadway genau so zu einem Begriff wurde wie im internationalen Filmbusiness.

Das Malen und Zeichnen war seine zweite Passion

Sie stammen alle aus den fünfziger Jahren („Die Physiker“ ist von 1962), und schon in seiner letzten Lebensdekade hatte er Probleme, Aufführungen auf großen Bühnen zu bekommen, galt er als antiquiert, interessierte sich außer der Kritik kaum noch jemand für seine Prosa.

Allerdings ist es im Rückblick gar nicht so einfach, Friedrich Dürrenmatt beizukommen, ihn trotz seiner Kanonisierung als Autor oder gar Begründer einer bestimmten literarischen Schule zu fixieren. Da mochte Walter Jens zwar davon sprechen, dass er wie alle großen Schriftsteller „nur ein einziges Thema“ habe: „Wie behauptet sich ein reiner Mensch in einem Äon des Chaos, der Heuchelei und der Macht“.

Doch ist Dürrenmatts Werk inhaltlich und formal enorm vielfältig. Es ist verspielt, sprengt die Gattungsgrenzen, enthält bisweilen Nachworte, die auf Nachworte folgen, präsentiert viele umgearbeitete Fragmente oder Nachgedanken, ist hier komisch oder unterhaltsam, dort abgründig oder philosophisch.

Und es ist der Aufklärung genauso verpflichtet wie dem ständigen Zweifel am Sinn allen Daseins, was dem frühen Dürrenmatt oft den Vorwurf einbrachte, ein Nihilist zu sein.

Schreiben bedeutete für Dürrenmatt immer „eine Form des Kämpfens“. „Ich schlage mich mit Theater, Rundfunk, Romanen und Fernsehen herum“, schrieb er in einer Notiz 1957: „Wie mir im Atelier des Dorfkünstlers die Malerei als ein Handwerk gegenübertrat, als ein Hantieren mit Pinsel, Kohle und Feder usw., so ist mir heute die Schriftstellerei ein Beschäftigen und Experimentieren mit verschiedenen Materien geworden.“

Seine Stoffe nannte er "verwandelte Eindrücke"

Nach dem Aufwachsen auf dem Dorf und später in Bern ist dem jungen, kurze Zeit auch mit den Nazis kokettierenden Dürrenmatt früh klar, entweder Maler oder Schriftsteller zu werden. Wie besessen malt er biblische Motive und Untergangsszenarien.

Er beginnt dann, Stücke zu schreiben, arbeitet während seines Philosophiestudiums in Bern an Erzählungen wie „Die Stadt“ oder „Der Hund“ und sorgt schließlich 1947 mit seinem Wiedertäufer-Stück „Es steht geschrieben“ am Zürcher Schauspielhaus für einen veritablen Skandal. Von einem „dramaturgischen Amoklauf“ ging danach die Rede, vom „Rausch eines wildgewordenen Pubertätsdramatiker“.

In Folge schreibt Dürrenmatt weiterhin Stücke, die Komödie „Romulus der Große“ beispielsweise, verdient sich sein Geld aber auch mit Auftragsarbeiten wie Hörspielen oder eben jenen berühmten Kriminalromanen, die in Fortsetzungen im „Schweizerischen Beobachter“ erscheinen.

Seinen Durchbruch in Deutschland, ein unumgängliches Muss für jeden Schweizer Autor, hat er schließlich 1952 an den Münchner Kammerspielen mit der „Ehe des Herrn Mississippi“, ebenfalls eine ins Groteske übersteigerte Komödie voller Leidenschaft, Irrsinn und Verbrechen.

Seine Stoffe, die er „verwandelte Eindrücke“ nannte, hatte er gefunden. Als „ganzer Mann“ schreibe man, schrieb er 1967 unter dem Verweis auf seine dörfliche Jugend und seine Kindheitserlebnisse, „alles hängt zusammen, weil alles in Beziehung gebracht wird, alles kann so wichtig werden, bestimmend, meistens nachträglich, unvermutet.“

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Dürrenmatt glaubte zunächst, das Weltgefüge primär mit tiefgängigen Komödien erklären und erschüttern zu können, mit nichtsdestotrotz „ungemütlichen Stücke“, wie er sie nannte. Oder wenn er Prosa schrieb, auch mit dem Kriminalroman. Sein Kommissar Bärlach erinnert zwar an Simenons Maigret (mehr noch übrigens an den späten, schwergewichtigen, durchaus in sich ruhenden Dürrenmatt).

Doch sind seine Krimis, gerade „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ auch Parodien auf das Genre. Viele Dialoge darin haben philosophischen Charakter, und die Figuren räsonieren über Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Moral.

Liest man Dürrenmatts Romane heute wieder, fällt auf, wie klar, nüchtern und gut sie geschrieben sind, wieviel Kraft diese Prosa hat. Ja, und wie sehr Dürrenmatt Schriftsteller war und explizit nicht Dichter, was er einmal für sich selbst präzise unterschieden hat. Überdies steckt darin viel Pop und Zeitgenössisches.

Wenn zum Beispiel in „Das Versprechen“ die Tankstelle, der wichtigste Schauplatz dieses Romans, und die dort aufgehängten Werbetafeln genau beschrieben werden: „Trinkt Canada Dry“, „Lindt Milchschokolade“ oder „Pneu Pirelli“ steht darauf.

Oder wenn Dürrenmatt in der Erzählung „Die Panne“ genüsslich Speisefolgen und vor allem Weine aufzählt vom Château Margaux des Jahrgangs 1914 über den Château Pavie 1921 bis zum Pichon-Longueville von 1933.

Dürrenmatts Figuren sind ganz und gar theatral

Was in letzterem Fall daher kam, dass Dürrenmatt nicht nur große Autos liebte (aber nur schlecht Auto fahren konnte), sondern er insbesondere ein großer Weinkenner und Weintrinker war. Noch in den späten siebziger Jahren, da ging es ihm gesundheitlich nur noch eher so leidlich, wanderte er liebend gern von seinem hoch oben in Neuchâtel stehenden Haus herunter in das Restaurant seines Freundes Hans Liechti, und zwar mit sechs Flaschen Wein aus dem eigenen Weinkeller in seinen Hosen- und Manteltaschen sowie in beiden Händen, um diese mit Liechti zu trinken.

Natürlich haben Dürrenmatts so erfolgreich gewordene Stücke, Erzählungen und Romane auch etwas Mechanisches, Offensichtliches, eben Lehrbuchhaftes.

Seine Figuren sind ganz und gar theatral, sei es die exzentrische Milliardärin Claire Zachanassian, die in „Der Besuch der alten Dame“ in ihr düster-trauriges Heimatdorf zurückkehrt und sich an ihren Mitbürgern rächt, die sie einst vertrieben haben.

Sei es der bieder-einfältige Textilreisende Alfredo Traps, dem in der „Panne“ von dem greisen vierköpfigen Amateurgericht der Prozess gemacht und demonstriert wird, dass er durchaus ein Mörder sein könnte (und der sich dann, einsichtig und klug geworden, aufhängt – obwohl doch alles nur ein Spiel war).

Dürrenmatts Erzählungen seien „hübsche und seltsame Schweizer Uhren“, hat der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut einmal geschrieben, sie hätten keine Geheimnisse oder Schwächen: „Die raffiniert glitzernden Gebilde können in Glaskästen bewundert werden, und sie lassen kleine Puppen zuckende, kleine Szenen darstellen von menschlicher Liebe und Habgier und Dummheit und Mord und Politik und Hoffnung. Die Puppen sind ganz klar Puppen und tun das, wozu die Maschine sie bestimmt. Es gibt nur eine menschliche Seele zu bestaunen – jene des Erfinders.“

1974 schrieb er einen Essay über Israel

Solcherart durchschaut, wurde es um Dürrenmatt von den siebziger Jahren an stiller und krisenhafter. Er war zu diesem Zeitpunkt schon eine Legende, dessen neuen Arbeiten man jedoch nicht mehr so großflächig wie zuvor rezipierte oder die gar noch einmal für Aufsehen sorgten. Eigenwillig stand er von Beginn seiner „Schriftstellerei“ an quer zum deutschsprachigen Literaturbetrieb (anders als sein großer Schweizer Kontrahent Max Frisch, der Suhrkamp-Autor und gleichfalls ein Lehrbuch-Dramatiker war).

Und quer zu Gesellschaft und Politik in seinem Heimatland sowieso, das gehört sich so für einen Schweizer Autor.

Das Werk des späten Dürrenmatt geriet dann zunehmend politischer, essayistischer, philosophischer. 1974 folgte er einer Einladung nach Israel, um Vorträge zu halten. Nach seinen Erfahrungen im Land begann er diese noch vor Ort umzuschreiben, woraus schließlich sein großer, als Buch kaum verkaufter Israel-Essay entstand.

Noch zu entdecken: Die sogenannten Stoffe

Dieser Text liest sich noch immer ziemlich frisch, geradezu aktuell, er ist frei von ideologischen Einlassungen, von einem schematischen Rechts-Links-Denken. Mit seiner proisraelischen Haltung gewann Dürrenmatt keine neuen Freunde und Freundinnen bei seinen durchweg israelkritischen Kollegen.

Zugleich begann er zu jener Zeit an an seinem großangelegten „Stoffe“-Projekt zu arbeiten. Dessen Fokus sollten seine frühen biografischen Erfahrungen sein, die zuvor nur wenig Einlass gefunden hatten in sein Werk.

Die „Stoffe“ bekam er in Folge kaum gebändigt, sie uferten aus, weil Dürrenmatt sie mit immer wieder neuen Fragmenten, liegengelassenen Schriften oder mit essayistischen Passagen anreicherte. 1981 erschienen unter dem Titel „Labyrinth“ die ersten drei Teile, kurz vor Dürrenmatts Tod am 14. Dezember 1990 folgten mit „Turmbau“ sechs weitere.

Ulrich Weber, der Kurator des Nachlasses von Dürrenmatt, verweist in seiner gerade erschienenen, lesenswerten Biografie (Diogenes Verlag, Zürich 2020, 715 S., 28 €.) darauf, wie präsent Dürrenmatt auf den deutschen und internationalen Bühnen mit seinen Stücken noch ist, wie er sich „auf Dauer im erweiterten Lektürekanon festgesetzt“ hat. Doch viel interessanter, viel entdeckenswerter dürfte der späte Dürrenmatt sein; der Autor des wirklich wilden Romans „Durcheinandertal“, des Israel-Essays und eben jener „Stoffe“, die letztendlich formal vorweggenommen haben, was heute in der Literatur gang und gäbe ist.

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