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"Das Leben der Indigenen ist wichtig". So steht es auch auf dieser Maske.

© Sandro Pereira/Zuma Press/dpa

Tag der indigenen Völker: Die Vergessenen der Corona-Pandemie

Indigene trifft Covid-19 hart. Im Amazonasgebiet ist die Lage auch wegen ausbleibender Hilfslieferungen dramatisch. In Kanada sucht man neue Wege.

Es sind Traumata, die wiederkehren könnten: Tod und Zerstörung in indigenen Gemeinden, ausgelöst durch eingeschleppte Krankheiten. „Covid-19 hat verheerende Auswirkungen für mehr als 476 Millionen Angehörige indigener Völker rund um die Welt“, stellt UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Botschaft zum „Tag der indigenen Völker“ am Sonntag fest. Die Gründe: Armut, soziale Ungleichheiten, Stigmatisierung, Diskriminierung und eingeschränkter Zugang zu Gesundheitssystem, sauberem Wasser und Sanitäranlagen.

In vielen Ländern, in denen indigene Völker leben, ist die Grundlage für ihre wirtschaftliche Selbstversorgung zusammengebrochen. Indigene Arbeiter haben ihre Jobs verloren, weil sie zu Hause bleiben mussten, um die Verbreitung des Virus zu stoppen. Während in manchen Ländern die Regierungen zusammen mit den Organisationen der indigenen Völker versuchen, den Bedrohungen entgegenzuwirken, sind die Ureinwohnervölker anderenorts auf sich allein gestellt.

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Die malerische Westküste Kanadas mit ihren Inseln und beeindruckenden Regenwäldern ist das traditionelle Siedlungsgebiet mehrerer First Nations, indigener Völker Kanadas. Hier leben die Nuu-cha-nulth, die Heiltsuk-, Haida- und Nisga’a-Nation und zahlreiche weitere.

Die Haida auf Haida Gwaii, der früher Queen Charlotte Islands genannten Inselgruppe, mussten wie viele andere Völker Nordamerikas erleben, dass in früheren Jahrhunderten Krankheiten wie die Pocken eingeschleppt wurden. „Covid-19 ist kein Virus, das eingeschleppt wurde, um uns loszuwerden. Aber es ist ein Virus, das uns sehr schaden kann“, erklärt Adeana Young, die Sprecherin einer Frauengruppe, die sich „Gaandlee Guu Jaajang“ nennen, Töchter der Flüsse.

Als jetzt die Debatte darüber losging, ob einige Luxusherbergen für Touristen auf Haida Gwaii wieder öffnen können, führten die Haida-Frauen den Widerstand dagegen an. „Dies ist kein Protest. Wir üben unsere angestammten Rechte aus“, sagt Adeana Young – weil sie die Gefahr sieht. Nicht ohne Grund. „First Nations sind die gefährdetsten Gemeinden in diesem Land“, sagt National Chief Perry Bellegarde von der Assembly of First Nations, dem Dachverbandes der indigenen Völker Kanadas.

Viele sind nur mit dem Flugzeug zu erreichen

Im März hatten alle ihrer Gemeinden den Notstand erklärt und den Zugang zu ihnen durch Straßensperren kontrolliert. In Kanada sind 96 Gemeinden der First Nations sogenannte „fly-in“-Gemeinden, die nur mit dem Flugzeug erreicht werden können. Sollten dort Infektionen auftreten, ist die Hilfe vor Ort kaum möglich. Wegen der Wohnraumnot würde es zudem schwer, Menschen zu isolieren.

Ein Ausbruch von Covid-19 in indigenen Gemeinden hätte dramatische Folgen – nicht nur für die Gesundheit der Menschen. Marilyn Slett ist Chief Councillor der Heiltsuk. Sie weist darauf hin, dass Covid-19 vor allem die älteren Menschen bedroht. Sie sind die Träger der Legenden und des traditionellen Wissens und oft die Einzigen, die die Sprache ihrer Völker noch fließend sprechen.

Die First Nations in Kanada sind bisher glimpflich davongekommen.
Die First Nations in Kanada sind bisher glimpflich davongekommen.

© imago images / Xinhua

Bisher war der Abwehrkampf der indigenen Völker Kanadas erfolgreich. Bis Anfang August wurden in den Reservaten und Territorien der First Nations 412 Covid-19-Fälle registriert. Sechs Todesfälle sind bisher zu beklagen. Im Inuit-Gebiet Nunavik im Norden Quebecs traten 17 Fälle auf. Als einziges Territorium Kanadas ist das überwiegend von Inuit bewohnte Arktisterritorium Nunavut mit rund 35.000 Menschen in etwa 30 Gemeinden komplett coronafrei.

In Kanada ist die Lage der indigenen Völker in der Coronavirus-Krise zwar angespannt, aber nicht desaströs wie in anderen Weltregionen. Das Gegenbeispiel liefert Brasilien mit Präsident Jair Bolsonaro. Dessen Politik, die Rodungen des Amazonaswaldes und Umweltzerstörung ermöglicht und die Rechte der etwa 900 000 Menschen missachtet, ist für diese eine akute Bedrohung. Bolsonaro hatte Presseberichten zufolge im Juli sein Veto gegen ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz eingelegt, das die Regierung verpflichtet hätte, Trinkwasser, Desinfektionsmittel und Krankenhausbetten zu liefern.

Kontakt mit Außenstehenden kann gefährlich sein

Er begründete dies mit einer angeblichen Verfassungswidrigkeit. Indigene Organisationen der Amazonasregion klagen über die Vernachlässigung durch die Zentralregierungen und Infektions- und Sterberaten durch Covid-19, die weit über dem jeweiligen nationalen Durchschnitt lägen. Wie das Portal „amerika21“ – gestützt auf Daten des Dachverbands der indigenen Völker des Amazonasgebiets – berichtet, sind von der Pandemie etwa 190 Ureinwohnervölker betroffen.

Sie leben in den neun Anrainerstaaten des Amazonasgebiets, wozu nicht nur der große brasilianische Teil, sondern auch angrenzende Regionen Kolumbiens, Venezuelas, Perus, Ecuadors, Boliviens und der drei sogenannten Guyana-Staaten gehören. Besonders prekär ist die Lage der isoliert lebenden indigenen Völker des Amazonasgebiets.

Kontakte mit der Außenwelt sind für sie immer mit Risiken verbunden. So wurde bei sechs Angehörigen der Nahua in Peru das Coronavirus nachgewiesen, nachdem sie Kontakt mit Außenstehenden hatten. „Leider werden sich selbst versorgende Völker immer wieder gegen ihren Willen aufgesucht“, sagt Juliana Miyazaki von der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Illegale Eindringlinge wollen auf ihren Gebieten Holz fällen oder Gold schürfen. Auch Evangelikale, die zum Missionieren kommen, bringen Covid-19 und andere Krankheiten mit. Und es gibt Übertragungen durch unentdeckt infiziertes medizinisches Personal, das eigentlich helfen sollte.“
Nach Angaben des Dachverbands haben sich von 170 000 isoliert lebenden indigenen Menschen der Region bis Ende Juli 28 000 mit dem Virus infiziert, mehr als 1100 seien gestorben. „Sprecher der Gemeinschaften warnen vor einem drohenden Genozid durch Vernachlässigung“, berichtet „amerika21“.

In den USA waren nach Angaben der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation Paho von Mitte Juli 22 500 Covid-19-Fälle unter Angehörigen der indigenen Völker gemeldet worden. Überhaupt habe in den meisten Ländern und Territorien Amerikas die Zahl der Covid-Erkrankungen zugenommen, vor allen in einigen Ländern Zentral- und Südamerikas.

Sie sind durch andere Krankheiten vorbelastet

Kontakte zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung, schlechter Gesundheitszustand der indigenen Bevölkerung und Vorbelastung durch Krankheiten wie Tuberkulose und das illegale Vordringen von Holzwirtschaft und Bergbau seien Risikofaktoren für indigene Völker, meint auch die Paho.

In Australien wurden mit Beginn der Krise fast alle indigenen Gemeinden, vor allem die abgelegenen im Northern Territory, gesperrt. Beim Uluru (ehemals Ayers Rock) gab es vor wenigen Tagen Proteste gegen die Wiedereröffnung des Parks. Die Bewohner des Aboriginal-Dorfes Mutijulu fürchten sich vor Ansteckung.

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Wie in anderen Ländern sind auch in Australien Ureinwohner besonders gefährdet wegen ihrer generell schlechteren Gesundheit. Die indigenen Gemeinden Australiens zogen auch Konsequenzen aus ihren Erfahrungen mit der H1N1-Pandemie 2009, von der die indigene Bevölkerung überproportional stark betroffen war.

Dass die Coronakrise auch die Möglichkeit bietet, alte Traditionen zu beleben, zeigt die Muscowpetung Saulteaux First Nation in Saskatchewan. Sie schaffte im Juli für ihr Gebiet eine aus 15 Tieren bestehende Bisonherde an. Chief Melissa Tavita möchte so die Nahrungssicherheit ihrer Gemeinde sicherstellen, sollte es zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder gar einer Unterbrechung des Nahrungsangebots bei einer zweiten Corona-Welle kommen. Ihre eigene Herde macht die Gemeinde unabhängiger: Ein ausgewachsener Bison liefert bis zu 1000 Kilogramm nahrhaftes Fleisch.

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