zum Hauptinhalt
In Rio de Janeiro sind sie vor allem in den großen Lagunen im Westen der Stadt heimisch.

© US PGA Tour/Getty Images

Kaimane in Rio de Janeiro: „Die letzten großen Raubtiere“

Rund 6000 Kaimane leben in Rio de Janeiro, doch ihr Lebensraum schrumpft. Wie ein Biologie versucht, sie zu retten.

Ricardo Freitas steht auf einer Fußgängerbrücke in Rios westlichem Stadtteil Recreio und betrachtet einen stinkenden Kanal mit schmutzig grauem Wasser. In der Brühe dösen circa zwei Dutzend Kaimane. Sie warten darauf, dass Passanten vorbeikommen und etwas zu Essen runterschmeißen.

Freitas runzelt die Stirn. „Die Stadt verändert die Gewohnheiten der Tiere“, sagt er. „Die Kaimane sind die letzten großen Raubtiere Rios. Es sind stolze Tiere. Aber nun leben sie in einer Kloake und werden gefüttert. Die Menschen glauben, sie würden ihnen damit Gutes tun.“

Der 42-jährige Freitas ist Biologe mit dem Spezialgebiet Reptilien und einer der führenden Kaiman-Experten Brasiliens. Nach dem Studium gründete er das Instituto Jacaré, dessen Mission der Schutz und die bessere Erforschung der rund 6000 Kaimane Rios ist.

Kaimane gehören zur Familie der Krokodile, unterscheiden sich aber von Echten Krokodilen und Alligatoren dadurch, dass sie kleiner sind (die größten Exemplare werden bis zu drei Meter lang), kürzer leben (bis zu 30 Jahre) und ausschließlich in Südamerika vorkommen. In Rio de Janeiro sind sie vor allem in den großen Lagunen im Westen der Stadt heimisch. Hier gibt es sogar ein Stadtviertel, das nach ihnen benannt ist: Jacarépagua. Es bedeutet: „Kaiman im Wasser“.

Die Stadt drängt an die Lagunen heran

Doch zum Nachteil der Tiere erlebt die gesamte Region seit einigen Jahrzehnten ein rasantes Wachstum. Es werden Appartmentblocks, Straßen und Shoppingcenter gebaut. Die Favelas wachsen ebenso wie von der Baumafia schnell hochgezogene Viertel.

Von allen Seiten drängt die Stadt also an die Lagunen heran. Es hat dazu geführt, dass der Lebensraum der Kaimane enorm geschrumpft ist. „Kein Wunder“, sagt Ricardo Freitas, „dass sie in Wohnanlagen, Swimmingpools und Golfplätzen auftauchen. Sie benutzen die Abwasserrohre als unterirdisches Wegenetz“. Immer häufiger wird Pires, ein kleingewachsener aber umso kräftigerer Typ, deswegen von Hausbesitzern angerufen, damit er die Tiere einfängt und wieder in eine der Lagunen entlässt. Er sagt den Leuten dann, dass nicht die Kaimane auf ihr Terrain vorgedrungen seien, sondern der Mensch sich in der Habitat der Reptilien verirrt habe.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Sein Faszination für die Kaimane erklärt Pires damit, dass es „wunderschöne Tiere“ seien, deren Geschichte bis zu den Dinosauriern zurückreiche. Dies sei auch ein Grund, warum es ihnen gelänge, unter widrigsten Umständen zu existieren. „Sie sind Überlebenskünstler“, sagt er. „Am erstaunlichsten ist, dass sie wortwörtlich in der Scheiße leben.“

Tatsächlich fließen die ungeklärten Abwässer von Millionen von Menschen in Rios westliche Lagunen. Es sind Latrinen geworden. Der konstante Zufluss von Feststoffen hat dazu geführt, dass die Gewässer bereits ein bis zwei Meter an Tiefe verloren haben. Die Fäkalien führen außerdem zur Bildung von Gasen. An vielen Stellen blubbert es. Auch im Kanal unter der Kaiman-Brücke sieht man dieses Phänomen.

Der Mensch wird ihnen zum Verhängnis

„Die Kaimane überleben, weil sie hart im Nehmen sind“, erklärt Ricardo Freitas. Allerdings fressen sie neben ihrer natürlichen Nahrung wie Fischen, Krustentieren, Vögeln und kleine Säugern auch immer mehr Plastikmüll, der ihnen die Gedärme verstopft. „Sie können das nicht unterscheiden, weil sie keine Zungen und keinen Geschmackssinn haben.“

Nun schwellen häufig die Bäuche der Tiere an, weil sie verstopfen. Viele Leute denken dennoch, sie seien gut ernährt. „Aber einen gesunden Kaiman erkennt man an seinem kräftigen Schwanz und an seinen glänzenden Schuppen“, erklärt Freitas. Die Kaimane unten im Kanal haben stumpfe gräuliche Schuppen und Freitas schätzt, dass 70 Prozent der Tiere Plastik im Magen haben.

Ein anderes Problem ist die Vorliebe der Reptilien für die Wärme, die von den Fäulnisprozessen im Wasser erzeugt wird. Sie liegen deswegen oft dort, wo besonders viele Gase aufsteigen. Und legen dort auch ihre Eier ab. Es hat den Effekt, dass überproportional viele Männchen geboren werden, weil es von der Bruttemperatur der Eiergelege abhängt, welches Geschlecht der Nachwuchs hat. Kaimane haben keine Geschlechtschromosomen, Temperaturen über 31 Grad begünstigen das Entstehen von Männchen, Temperaturen darunter das von Weibchen. Von der „Kaiman-Brücke“ wirft jetzt ein Kind trockene Croissants ins Wasser. Freitas schüttelt den Kopf, er hat es aufgegeben, den Leuten zu sagen, dass sie den Tieren damit schaden. Ein Schild, dass das Füttern der Tiere untersagt, wird einfach ignoriert.

Die Kaimane sind eine lokale Touristenattraktion geworden. Manchmal kommen Fleischer, die ihre Schlachtabfälle ins Wasser kippen. Auch Geschichten von Leuten, die „zum Spaß“ Hunde und Katzen ins Wasser werfen, gehen um. Unter den Tieren im Kanal bricht nun ein kleiner Tumult aus, bei dem die größeren Kaimane nach den kleineren schnappen, was zu lebensbedrohliche Bisswunden führen kann. „Eigentlich müsste jemand die Fütterungen unterbinden“, sagt Freitas.

Biologe Freitas betreibt ein wichtiges Monitoring

Einige Tage später steht der Biologe mit einem Mitarbeiter seines Instituts an einem Anleger an der Lagoa de Marapendi. Es ist die sauberste Lagune im Westen Rios, weil sie am wenigsten zugebaut ist. Während die Dunkelheit hereinbricht, besteigen die beiden ein Boot und fahren rund 20 Minuten. Im Wasser und am Ufer blitzen immer wieder Augenpaare im Schein ihrer Kopflampen auf. Es sind Kaiman-Augen.

In einer Bucht nähern sich die Männer nun paddelnd den Tieren, die in der Dunkelheit nur schlecht sehen und durch das Licht geblendet werden. Mit einer Schlinge an einem langen Stab, die er ruckartig zuzieht, versucht Pires eines der Reptilien zu fangen. Aber die Kaimane sind heute schneller – sie haben im Unterkiefer feine Sensoren, mit denen sie jede Bewegung im Wasser wahrnehmen – und ziehen ihre Köpfe blitzschnell zurück.

Erst nach einer Weile ist Freitas bei einem Jungtier erfolgreich. Der 70 Zentimeter lange Kaiman windet sich, gluckst und quiekt. Freitas zieht ihn ins Boot und wickelt Klebeband um sein Maul, damit er nicht beißt. „Ein ausgewachsener Kaiman kann eine Bissstärke von einer Tonne haben“, sagt Freitas. „Dieser Kamerad ist natürlich schwächer, aber ich will es nicht riskieren.“

„Als Umweltschützer bist du in Rio echt einsam“

Mit einem Maßband vermisst Freitas das Tier, bestimmt sein Geschlecht und schneidet ihm schließlich mit einer scharfen Klinge zwei Schwanzschuppen heraus. „Das macht ihm gar nichts“, sagt Freitas. „Es blutet ein wenig, dann verheilt es.“ Er notiert, welche Schuppen er herausgetrennt hat, so kann er den Kaiman später identifizieren. Die Schuppen steckt er ein, um sie später im Labor zu untersuchen. Dann gibt er dem Kaiman einen Kuss auf die Schnauze und lässt ihn zurück ins Wasser. „Von den rund 6000 Kaimanen in Rio habe ich etwa 700 erfasst“, sagt Freitas.

Wie notwendig dieses Monitoring ist, verdeutlichte ein Ereignis wenige Tage später. Ein Fischer findet 15 getötete Kaimane, ihre Kadaver liegen versteckt im Unterholz. Offenbar hat jemand sie dort abgelegt, um sie später abzuholen und ihr Fleisch zu verkaufen. „Die illegalen Jäger benutzen Netze, mit denen sie die Kaimane unter Wasser zwingen und sie ersticken lassen. Rio ist in weiten Teilen ein rechtloser Raum“, sagt Freitas.

Seine Arbeit finanziert der Kaiman-Experte, indem er Kaiman-Touren anbietet. Von der Stadt wird er nicht unterstützt. „Als Umweltschützer bist du in Rio echt einsam“, klagt Freitas. Es sei die Liebe zur Wissenschaft und zu den Tieren, die ihn ermutige weiterzumachen. „Es ist meine Aufgabe, die Menschen über diese fantastischen Burschen aufzuklären.“

Zur Startseite