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Guten Abend, meine Damen und Herren. Wenn Constantin Schreiber die „Tagesschau“ verliest, bleibt vom Islamkritiker nur noch der Nachrichtensprecher übrig.

© NDR/Thorsten Jander

„Wollt ihr absolute Diversität?“: „Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber und sein hochproblematischer Islam-Roman

Passende oder unpassende Nebentätigkeit: Wird „Tagesschau“-Sprecher Constantin Schreiber sein Roman "Die Kandidatin" zum Problem?

Ein Mann schreit in eine Menge: „Wollt ihr absolute Diversität?“ Die begeisterte Antwort: „Ja.“ Das erinnert an die berüchtigte Sportpalastrede von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels von 1943, in der er den totalen Krieg forderte – und von seinen fanatischen Nazi-Genossen mit tosendem Beifall geliefert bekam.

Die aktualisierte Version stammt aus dem Buch „Die Kandidatin“ von Constantin Schreiber. Eine Fiktion, eine quasideutsche Übersetzung des Bestsellers „Die Unterwerfung“ des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. „Die Kandidatin“, das ist Saban Hussein, Feministin, Muslimin, ehemaliges Flüchtlingskind und mit ihrer ökologischen Partei auf dem Weg ins Kanzleramt.

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Deutschland im Jahr 2050, gänzlich durchdrungen von Identitätspolitik, wirtschaftlich am Abgrund, beherrscht von einer gesetzlich festgeschriebenen Diversitätsquote, es droht bewaffneter Widerstand am rechtsradikalen Rand, und zu schlechter Letzt ist die Nofretete-Büste in Peking gelandet.

Autor Schreiber schwingt den dicken Pinsel, plakativ und mit erkennbarer Schablone wird ein unschönes Deutschland gemalt. Ihm ist es um die Auswüchse einer ins Absurde gesteigerten Identitätspolitik zu tun. Das hat die Kritiker auf den Plan gerufen.

Alles andere als linksgrün versifft

Thomas Brussig hat den Roman dergestalt im Tagesspiegel rezensiert: „Wer diesen Pageturner als ,skandalös‘ tituliert, als ,Machwerk‘, ,schmutzige Fantasie‘ (...), möge bedenken, dass alle Details, mit denen Schreiber die Zukunft ausmalt, den laufenden Debatten entnommen sind.“ Und zu Autor Schreiber bemerkt Brussig, er sei der lebende Gegenbeweis für gängige Vorurteile, „wonach Islamkritiker rechtsdumpfe Fremdenfeinde und der Staatsfunk eine linksgrün versiffte Verschwörung sind“.

Constantin Schreiber gibt es mehrfach: als Fernsehjournalisten (für die Moderation der deutsch-arabischen n-tv-Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“ wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet), als Buchautor (u. a. des Bestsellers „Inside Islam – Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“), 2019 hat er die Deutsche Toleranzstiftung gegründet – seit Januar 2021 spricht er die Hauptausgabe der „Tagesschau“ um 20 Uhr. Mit breiten Schultern, warmer Stimme verliest der 41-Jährige mit dem „Babyface“ Texte, die andere für ihn aufgeschrieben haben.

Köpcke mit Schnauzer

Über Jahre und Jahrzehnte haben sich die Sprecherinnen und Sprecher von Deutschlands zuschauerstärkster Nachrichtensendung an diese Grundregeln gehalten: Wir werden nicht verhaltensauffällig, es gibt keine Gemeinmachung mit dieser oder jener Nachricht, wir sind nicht Partei, wir sind absolut neutrale News-Vermittler.

In dieser Perspektive musste es eine breit diskutierte Sensation werden, als ein Karl-Heinz Köpcke 1974 nach seinem Urlaub mit Schnauzbart das Publikum begrüßte. Das war’s dann auch an größeren Aufregungen in dieser Ordensgemeinschaft der gesprochenen Fernsehnachricht.

Bis es Sprecherin Eva Herman gefiel, sich dem Rechtspopulismus hinzugeben. 2007 verteidigte sie die Familienpolitik der Nazis, der damalige NDR-Programmdirektor Volker Herres sah sie auf dem „Mutterkreuzzug“. Es kam zur Trennung, auch weil Volker Herres meinte, Hermans schriftstellerische Ambition vertrage sich nicht mit ihrer Aufgabe im ARD-Nachrichtenfernsehen.

Eva Herman und die Nazis

Wandelt Constantin Schreiber auf Eva Hermans Spuren? Der NDR, verantwortlich für ARD-aktuell („Tagesschau“, „Tagesthemen“), wird in der „taz“ mit der Feststellung zitiert, seine schriftstellerische Tätigkeit sei „getrennt von seiner Tätigkeit im NDR zu betrachten und fällt unter die Kunstfreiheit“.

Auch wenn diese Haltung etwas vom schlanken Fuß hat, bleibt es in der Selbstverantwortung von Constantin Schreiber, dass ihm die Grenzziehung gelingt. Es ist sicherlich die Wahl der Genres, die ihm dabei helfen wird. Die Neutralität des Fernsehmitarbeiters Schreiber würde in Zweifel geraten, wenn er neben der „Tagesschau“ als recherchierender Islamkritiker in ARD-Formaten auftauchen würde. Semper aliquid haeret: Das Zuschauerhirn täte sich schwer, zwischen dem Journalisten Schreiber und dem Sprecher Schreiber zu unterscheiden. Eine Hybrid-Existenz meinetwegen und allemal besser als Hybris.

Fortsetzung?

Es ist davon auszugehen, dass der Autor mit Bedacht die literarische Fiktion und zu seiner eigenen Absicherung deren groteske Übersteigerung, die Satire, gewählt hat. Schreiber seine publizistischen Ambition auf allen Ausspielwegen zu untersagen, käme einem Berufsverbot gleich. In der „Spiegel“-Bestsellerliste steht „Die Kandidatin“ auf Platz 16. Reicht das, um weiteren, vielleicht schriftstellerischen Ehrgeiz zu entfachen?

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