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Popkornbrüder nennen sich Ferdinand (links) und Milan selbst. Die beiden Künstler verbindet eine besondere Vertrautheit.

© ZDF/Christoph Rohrscheidt

Identität und Inszenierung: 3sat setzt „Ab 18!“-Reihe mit Lehrenkrauss-Film fort

Ein Film von „Lovemobil“-Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss eröffnet neue „Ab 18!“-Staffel.

Die 3Sat-Reihe „Ab 18!“ ist eine kleine Perle im deutschen Fernsehen. Jährlich werden sechs kurze Dokumentarfilme über junge Menschen, ihre Träume vom Leben und ihre Probleme im Alltag produziert. Es sind Filme, für die die engen Vorgaben formatierter Reihen wie „37°“ (ZDF) oder „Menschen hautnah“ (WDR) nicht gelten. Vielmehr genießen die Autorinnen und Autoren bei der Gestaltung größere Freiheiten.

Um künstlerischen Ausdruck geht es insbesondere im Auftaktfilm der neuen Staffel: „Fehler und Irritation“ stellt zwei junge Berliner Künstler vor, die Brüder Ferdinand und Milan, zwei Kunststudenten, die sich malend und mit skurrilen Performances kritisch und humorvoll mit der Welt auseinandersetzen. Sie ziehen als „Popkornbrüder“, selbiges verkaufend, durch die Straßen und bereiten ihren „Raketenstart“ in selbst gebauten Anzügen und einer selbst gebauten Rakete vor.

Im Atelier sieht man in ruhigen Einstellungen, wie die Bilder mit den in ihre Einzelteile zerlegten Menschenfiguren entstehen. Zugleich zieht sich die Erinnerung an den verstorbenen Vater wie ein roter Faden durch die Gespräche der Brüder. Ein auch ästhetisch gelungener Film, der Bilder für sich sprechen lässt, der Persönliches und Künstlerisches ungezwungen verbindet.

[ „Fehler und Irritation“, 22 Uhr 30; „Chao’s Transition“, 23 Uhr 15; „Karls Freiheit“, 23 Uhr 50, alle Montag auf 3Sat]

Dass Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss sich mit jungen Künstlern beschäftigt, die ihre eigene Wirklichkeit inszenieren, ist ein kurioser Zufall, aber eine ausgesprochen passende Wendung. Denn für „Fehler und Irritation“ hatte sie zuvor selbst gesorgt. Im Frühjahr musste Lehrenkrauss einräumen, dass sie in ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm „Lovemobil“ Darsteller:innen eingesetzt hatte, ohne dies transparent zu machen. Sie entschuldigte sich und gab den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurück. In der Öffentlichkeit sorgte dies für einige Schlagzeilen und auch für eine neuerliche Diskussion über die Frage, wie weit Dokumentarfilmer:innen bei ihrer künstlerischen Inszenierung von Wirklichkeit gehen dürfen. Wie real ist filmische Realität?

3sat stärkte Lehrenkrauss den Rücken

Trotz des öffentlichen Wirbels um „Lovemobil“ habe die 3sat-Redaktion nach interner Beratung beschlossen, die Zusammenarbeit mit ihr fortzusetzen, sagte Lehrenkrauss dem Tagesspiegel. Dass ihr von der Redaktion in dieser Zeit der Rücken gestärkt worden sei, habe ihr gut getan. Im April hatte sie in einem „Zeit“-Interview gesagt, ihre „größte Angst“ sei es, keine Filme mehr machen zu können. Das immerhin scheint nicht eingetroffen zu sein. Zurzeit arbeitet sie nach eigenen Angaben an drei neuen Filmprojekten.

Anlass zur Kritik wegen unerlaubter Inszenierungen liefert ihr nächster veröffentlichter Film nach „Lovemobil“ nicht. Dass es auch bei den Dreharbeiten von „Fehler und Irritation“ Absprachen zwischen Protagonisten und Autorin gegeben haben muss, ist erstens erkennbar und zweitens legitim. So ist die Szene, in der Ferdinand und Milan im Auto sitzend über den Verlust ihres Vaters reden, sicher nicht zufällig entstanden. „Durch Arrangements kann ich besondere Räume und Situationen schaffen, in denen unsere Protagonisten frei aus ihrem Inneren erzählen und sie selbst sein können“, sagte Lehrenkrauss in einem Interview mit 3sat-Redakteur Udo Bremer.

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In „Chao’s Transition“, dem zweiten Film der neuen Staffel, setzen Mieko Azuma und Susanne Mi-Son Quester Animationen ein, um sich der Gefühlswelt ihrer Protagonistin zu nähern. Chaos kunstvolle Computer-Zeichnungen erinnern an japanische Animes. Sie ist in Japan geboren, lebt aber seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz. Und: Sie möchte mit Operationen ihr Geschlecht der eigenen Identität anpassen. Chao fühlt sich als Frau, kleidet sich betont weiblich und lässt ihre Brüste vergrößern, verschiebt aber nach jahrelanger Hormonbehandlung die Genital-OP, weil sie sich erst mal Zeit für ihr Studium an der Kunsthochschule Zürich nehmen will. „Wohl fühlen in meinem Körper, das habe ich jetzt gelernt im letzten halben Jahr“, sagt Chao.

Im dritten Film der neuen „Ab 18!“-Staffel steht ein weiterer Berliner im Mittelpunkt: Antje Kruska und Judith Keil begleiten in „Karls Freiheit“ einen 21-Jährigen, den die Corona-Pandemie dazu zwang, seine Weltreise abzubrechen. Zurück im elterlichen Haushalt, hat er jedoch Mühe, den Alltag allein zu bewältigen. „Karls Freiheit“ und „Fehler und Irritation“ im Doppelpack zeigt auch das Berliner Kino Sputnik am Montag ab 19 Uhr 30. Drei weitere neue „Ab 18!“-Filme strahlt 3Sat am 6. Dezember aus.

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