zum Hauptinhalt
Steffi Groß, Inhaberin des „Café Tilda“, nutzt „Rebowls“ und Schraubgläser.

© Kai Röger

Gegen den Verpackungsirrsinn: Tragfähige Lösungen

Essen zum Mitnehmen, Verpflegung per Lieferdienst: Die Pandemie macht viel Müll. Dass es auch anders geht, beweisen Restaurants mit neuen Ideen.

Mittags um halb eins hetzt eine Armee von Heimarbeiter:innen über die Gehwege in Prenzlauer Berg, an ihren Handgelenken schlenkern braune Papiertaschen oder rote Plastiktüten. Darin stapeln sich Pappschachteln, Aluschalen, Plastikschüsseln. Neben ihnen kurven die Fahrradkuriere von Lieferando und Wolt die Straße entlang, auch ihre Rucksäcke randvoll mit Essen in Einwegverpackungen.

Wer es sich leisten kann, springt in Zeiten von Homeoffice und Distanzunterricht schnell mal zum Imbiss an der Ecke, um eine Pizza oder ein Curry für die Belegschaft zu Hause ranzuschaffen oder lässt sich das Mittagessen liefern. Das Ergebnis kann man überall besichtigen: Essensverpackungen türmen sich in den Mülltonnen im Hof, die Abfalleimer an den Straßenecken quellen über, die Gebüsche in den Parks sind gespickt mit Kaffeebechern und Pommesschalen. In Zeiten der Pandemie scheint der Gebrauch von Einwegverpackungen plötzlich als Kavaliersdelikt zu gelten, als einer dieser Corona-Kollateralschäden eben.

2020 landeten sechs Prozent mehr Verpackungen im Abfall

Der Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft meldet in der Jahresbetrachtung 2020 fast sechs Prozent mehr Leichtverpackungen aus Kunststoffen, Metall und Verbundmaterialien im Abfall. Sogar ökologisch beseelte Mitbürger nehmen das offenbar achselzuckend hin. Auch Veganerinnen tragen ihren Saitanburger in Plastik nach Hause.

Nun sind wir nicht die ersten, die ihren Arbeitstag mit Verpflegung zum Mitnehmen meistern müssen. Bis in die sechziger Jahre brachten die Bergmänner im Ruhrpott ihr Mittagessen im Henkelmann mit zur Arbeit, weil es in den Zechen weder Kantine noch Imbiss gab. Vor Ort wurden die Henkelmänner nur noch im Wasserbad erwärmt – oder gleich von der Gattin frisch befüllt ans Werkstor gebracht.

Mehrweg, historisch betrachtet. Im Henkelmann transportierten die Bergarbeiter einst ihr Mittagessen.
Mehrweg, historisch betrachtet. Im Henkelmann transportierten die Bergarbeiter einst ihr Mittagessen.

© picture-alliance/ dpa

Manche kommen bereits auf das Prinzip Henkelmann zurück, etwa das „Café Tilda“ in Prenzlauer Berg. Dort können die Gäste nicht nur zwischen Avocadostulle und Süßkartoffelsuppe, sondern auch zwischen wiederverwendbarem Schraubglas und Mehrwegschale wählen. Die sogenannte Rebowl ist eine tannengrüne Kunststoffschüssel mit transparentem Deckel, die man für fünf Euro Pfand mitnehmen und nach der Mahlzeit entweder bei „Tilda“ zurückgeben kann oder in einem anderen Restaurant, das mit Rebowls arbeitet. Inhaberin Steffi Groß ist ganz angetan von dem System, ihre Gäste seien es auch, sagt sie. Viele gäben schon bei der Bestellung am Telefon durch, dass sie ihr Essen gerne in der Pfandschale mitnehmen wollten. „Das ist für beide Seiten total unkompliziert. Ich bin froh, dass wir die Schalen anbieten können, wir gruseln uns ja auch vor den Verpackungsbergen.“

In einigen Lokalen gibt's Rabatt, wenn man eine eigene Dose mitbringt

Entwickelt worden sind die Mehrwegschalen von der Firma Recup, die auch hinter den inzwischen verbreiteten Pfandbechern steckt. Das Unternehmen gibt an, jede Schale sei rund 200 Mal zu verwenden. Die Gefäße aus Polypropylen sind zu 100 Prozent recyclebar, frei von Chemie wie Bisphenol A (BPA), spülmaschinenfest und hitzebeständig. Derzeit sei die Nachfrage so groß, dass es zu leichten Lieferverzögerungen komme, sagt Unternehmenssprecherin Greta Mager. Auch im Café Tilda ist an manchen Tagen der gesamte Bestand im Kiez unterwegs. Was aber nicht bedeutet, dass dann die Bestellungen in der Pappschachtel über den Tresen gehen. Manche Gäste kommen mit der eigenen Lunchbox. „Wir befüllen auch gerne mitgebrachte Gefäße“, sagt Groß. Sie findet das trotz Corona unproblematisch.

Glänzende Idee: In Restaurants von Si An Troung kann man den Tiffin gleich mitbestellen.
Glänzende Idee: In Restaurants von Si An Troung kann man den Tiffin gleich mitbestellen.

© Promo

Auch viele andere Restaurants akzeptieren mitgebrachte Boxen – nicht zuletzt, weil sie so Verpackungskosten sparen. Einige Lokale, etwa die vietnamesischen Restaurants von Si An Truong gewähren zehn Prozent Rabatt auf die Rechnung, wenn man seine eigene Dose mitbringt. Dort gibt es auch eine stilechte Alternative: Gegen 15 Euro Pfand kann man sein Gericht in einem „Tiffin“ davontragen, der indischen, mehrstöckigen Variante des Henkelmanns. In Mumbai werden so mittags Heerscharen von Büroarbeitern mit Selbstgekochtem versorgt, meist von Fahrradboten, den Dabbawallas.

Vielleicht wird die Lunchbox bald auch in Berlin zum Accessoire. Bei der Entscheidung für den individuellen Ernährungsstil spielen Aspekte wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz eine immer größere Rolle, und dieser Anspruch gilt auch für die Verpackung. Ein Sellerieschnitzel in der Aluschale, das passt so wenig wie der Pelzmantel zu veganen Doc Martens.

Vorbild Bento Box

Derzeit liegen die meisten Restaurants, die mit Rebowls arbeiten, in Friedrichshain und Prenzlauer Berg. In ganz Berlin sind es momentan etwas mehr als 40 Lokale. Auch die Firma Vytal bietet ein Konzept für Mehrwegschalen an, das in Berlin knapp 120 Restaurants und Cafés nutzen. Bei Vytal ist die Ausleihe der Schalen über eine App geregelt, Pfand fällt nicht an. Zur Kasse gebeten wird nur, wer die Schalen nicht innerhalb von zwei Wochen zurückbringt. Andere Anbieter reagieren mit eigenen Lösungen auf die Krise: So liefert etwa „Sublim Deli“ seine Menüs auf Porzellan, das am nächsten Tag wieder abgeholt wird. Und der frühere Küchenchef des „Herz und Niere“, Christoph Hauser, vertreibt über einen Onlineshop selbst eingemachte Gerichte in Pfandgläsern. Die Zahl vergleichbarer Lösungen und teilnehmender Lokale wird unweigerlich wachsen. Bis 2023 will der Gesetzgeber Restaurants, Bistros und Cafés, die in Deutschland Essen und Getränke zum Mitnehmen verkaufen, verpflichten, ihre Produkte auch in Mehrwegverpackungen anzubieten. Und schon im Juli dieses Jahres sollen Einwegverpackungen aus fossilen Rohstoffen wie Styropor oder Plastik EU-weit verboten werden.

Wer keinen Mehrweganbieter in der Nähe hat, packt einfach die Tupperdose aus dem heimischen Küchenschrank ein. Die gewinnt vielleicht keinen Designpreis, sticht aber doch in Sachen Nachhaltigkeit jede Neuanschaffung locker aus. Für alle, die lieber mit einem formschönen Modell losziehen wollen, bietet der Handel inzwischen Varianten jeder erdenklichen Form, Farbe und in diversen Materialien an. Wenn man sie regelmäßig und dauerhaft nutzt, wie es in Japan mit den Bentoboxen geschieht, ist auch eine neu gekaufte Schale den Einwegverpackungen ökologisch überlegen.

Appetit bekommen? Hier geht es zu unseren aktuellen Kochbuchempfehlungen (Abo) und hier finden Sie mehr als 150 einfache Rezepte für jeden Tag.

Nicht ausgeschlossen also, dass Lunchboxen und Pfandschalen bald zum „must have“ in den Großstädten avancieren. Die Pandemie hat sogar die Nachfrage nach der guten, alten Milchkanne wiederbelebt. In London sind bereits wieder hauptberufliche Milchmänner und -frauen unterwegs. Auch in Deutschland berichten Milchkannen-Lieferanten, das Interesse an ihrem Service sei seit Frühjahr 2020 in die Höhe geschnellt, weil die Leute nun den ganzen Tag zu Hause verbrächten, ihren gestiegenen Bedarf aber nicht mit Wegwerfverpackungen decken wollten. Wer weiß, vielleicht werden Milchkanne, Lunchbox und Pfandschale eines Tages noch zum Symbol unserer durch die Pandemie veränderten Alltagskultur.

Zur Startseite