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Hätte die SPD bundesweit nur 800 Stimmen mehr erhalten, hätte sie einen Sitz mehr im Parlament erhalten.

© imago images/Emmanuele Contini

Update

Bundeswahlleiter zu Pannen-Wahl 2021: Halb Berlin soll noch mal wählen

Der Bundeswahlleiter hat eine Wiederholung der Bundestagswahl in sechs Berliner Wahlkreisen beantragt. CDU fordert Neuwahl auch auf Landesebene. SPD dagegen.

Nach den Pannen bei der Wahl im vergangenen September in Berlin hat Bundeswahlleiter Georg Thiel in der Anhörung des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages beantragt, die Bundestagswahlen in sechs von 12 Berliner Bundestagswahlkreisen zu wiederholen – nicht nur im Wahlkreis Reinickendorf, in dem eine Mandatsrelevanz festgestellt wurde. Damit müsste in der Hälfte aller Wahlkreise neu gewählt werden.

Thiel fand bei der Anhörung am Dienstag deutliche Worte für die Organisation der Bundestagswahl, die gemeinsam mit Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen stattfand: "Hier ist ein komplettes systemisches Versagen zu sehen", sagte Thiel. "Was muss noch passieren, dass wir Wahlen als wiederholungsfähig oder rechtswidrig sehen?"

Bei den sechs von ihm beanstandeten Wahlkreisen handelt es sich um die Wahlkreise 75 (Berlin-Mitte), 76 (Berlin-Pankow), 77 (Berlin-Reinickendorf), 79 (Berlin-Steglitz-Zehlendorf), 80 (Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf) und 83 (Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost).

Der Bundeswahlleiter hatte erhebliche Mängel in sechs Bundestagswahlkreisen festgestellt. Besonders in Reinickendorf könnten Fehler zu einer Verzerrung des Ergebnisses geführt haben. Dort hatte Monika Grütters (CDU) das Direktmandat nur ganz knapp gegen Torsten Einstmann (SPD) gewonnen.

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Hinzu kommt: Hätte die SPD bundesweit nur 800 Stimmen mehr erhalten, hätte sie einen Sitz mehr im Parlament erhalten. Die Abgeordneten im Bundestag müssen Thiels Einspruch ernst nehmen, er wird am Dienstag genau wie die Berliner Landeswahlleitung selbst angehört.

Bundeswahlleiter ärgerte sich über vermeidbare Fehler

Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages führte am Dienstag die erste öffentliche Anhörung in seiner Geschichte durch (zum Stream). Thiel betonte darin, dass die Bundeswahlleitung die ehemalige Landeswahlleiterin mehrfach im Vorhinein der Wahl auf die besonderen Probleme bei Wahlen unter Corona-Bedingungen, mit einem Marathon und mehreren Abstimmungen gleichzeitig hingewiesen habe. "Die Wahlleitung hat immer gesagt: Alles gut", sagte Thiel.

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Den Bundeswahlleiter ärgerte offenkundig vor allem der Umstand, dass die meisten Fehler hätten vermieden werden können. Die Fehlerliste, die er in seiner Stellungnahme an die Abgeordneten vortrug, ist lang: Wahllokale waren zwischendurch wegen fehlender Stimmzettel bis zu zwei Stunden geschlossen, in mehr als 250 Wahllokalen wurde bis nach 18.30 Uhr gewählt. Das letzte Wahllokal schloss um 21.31 Uhr. Ein Minderjähriger hat verbotenerweise mitgewählt. Wähler wurden abgewiesen.

Die Landeswahlleitung widersprach dem Eindruck systemischer Mängel am Dienstag, legte aber selbst viele Fehler offen. In 311 von 2257 Wahllokalen habe man erhebliche Mängel und Verstöße festgestellt. 362 Erststimmen seien wegen Ausgabe falscher Stimmzettel ungültig, in 102 Wahllokale war die Wahl unterbrochen. Dazu wurden 170 Wahlberechtigte direkt abgewiesen. Dazu eben die 255 Wahllokale mit zu langer Öffnung, und der eine Minderjährige.

Landeswahlleitung wirkte wirr und unvorbereitet

Im Gegensatz zu Thiel versuchte die Landeswahlleitung zu erklären, dass man sich sehr wohl auf die besondere Wahl vorbereitet habe. Es habe 457 Wahllokale mehr gegeben, um besonders große Wahllokale zu verkleinern. Dazu habe es ein besonderes Online-Schulungsangebot gegeben. Genug Wahlhelfer hätte es auch gegeben, es seien zum Auszählen auch zusätzliche Wahlvorstände eingerichtet worden. "Warum gab es dann diese Probleme nur in Berlin?", will ein Parlamentarier wissen.

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In ihrer Verteidigung führt die Landeswahlleitung an, dass viele Kleinigkeiten - vom Marathon, über Staus, unerfahrene Helfer, falsche Stimmzettel und Pandemie - zu der chaotischen Wahl geführt hätten. Die Abgeordneten quittieren die teils wirren Erläuterungen der unvorbereitet wirkenden Berliner Landesebene mit scharfen Nachfragen und Kopfschütteln.

Einzelne Details wie die Organisation der Stimmzettelabholung wirken wie eine Schildbürgererzählung: In Berlin holen die Wahlvorstände die Stimmzettel am Vortag der Wahl selbst von den Bezirkswahlleitungen ab. Weil es diesmal so viele Stimmzettel auf einmal waren - 32 Gramm pro Päckchen - seien diese aber bis zu 24 Kilogramm schwer gewesen und nicht zu transportieren. Die Wahlvorstände hätten deshalb nur einen Teil mit zum Wahllokal gebracht.

„Wie kann das überhaupt sein?“

Am Wahltag sorgte das für erhebliche Verzögerungen und Schließungen von Wahllokalen, weil die Zettel nicht nachgeliefert werden konnten. Ein Lkw mit Stimmzetteln soll auch noch fast eine Stunde im Stau gestanden haben, erklärt die stellvertretende Berliner Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann. Die Ausschussvorsitzende Daniela Ludwig (CSU) fragt ungläubig: "War das nicht lange klar? Spätestens am Vortag? Wie kann das überhaupt sein, dass die Wahlvorstände das abholen?"

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Die Anhörung sollte am Dienstag noch bis in den Abend hinein gehen. Auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Wiederholungswahl sollte besprochen werden. Der Wahlprüfungsausschuss wird dann, allerdings erst nach weiteren Beratungen, eine Empfehlung darüber abgeben, der Bundestag schließlich entscheiden. Gegen die Entscheidung können die mehr als 2000 Menschen, die einen Einspruch gegen die Wahl eingelegt haben, bei Bundesverfassungsgericht widersprechen.

Nahezu alle Verfahrensbeteiligten gehen deshalb davon aus, dass die Berliner Bundestagswahl nach der Entscheidung im Parlament auch ein Fall für das Bundesverfassungsgericht wird. Eine politische Entscheidung wird wegen der Fülle der Vorwürfe und der Komplexität der Frage nicht mehr vor der Sommerpause erwartet. Wann das Bundesverfassungsgericht über etwaige Einsprüche entscheiden würde, ist völlig offen.

Direkte Auswirkungen auf die mögliche Wiederholungen der Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen hat die Entscheidung über die mögliche Wiederholung der Bundestagswahl nicht. Da die Wahlen aber parallel stattfanden, gehen Beobachter davon aus, dass sich Rückschlüsse aus dem öffentlichen Verfahren zur Bundestagswahl ziehen lassen. Zuletzt war in Berlin die Sorge vor kompletten Neuwahlen gestiegen, weil das Berliner Verfassungsgericht alle Wahlkreise noch einmal überprüft.

Scharfe Kritik der Berliner CDU

Der Vorsitzende der Berliner Landesgruppe der CDU, Thomas Heilmann, nahm an der Sitzung teil. Er sagte dem Tagesspiegel: „Die Wahlfehler in Berlin sind hochpeinlich für den Senat und haben dramatische Ausmaße.“ Noch schlimmer als bei der Bundestagswahl sei es bei der zeitgleich stattfindenden Abgeordnetenhauswahl zugegangen. „Hier muss es nicht nur eine Neuwahl, sondern auch politische Konsequenzen geben.“

Auch der Berliner CDU-Generalsekretär Stefan Evers übte scharfe Kritik am Berliner Senat. Die Aussagen des Bundeswahlleiters seien dramatisch: "Rot-Rot-Grün wurde vor den Augen der Republik ein komplettes systematisches Versagen bei der Wahlorganisation attestiert." Zustände "wie in einer Bananenrepublik" seien zu beobachten gewesen, kommentiert Evers.

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"Während in anderen Landesteilen die Bundestagswahl trotz Flutkatastrophe fehlerfrei organisiert wurde, wurde in Berlin die Wahl selbst zur Katastrophe. Es ist offensichtlich, dass die Fehler des Senats so schwer wiegen, dass mindestens weite Teile der Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl zu wiederholen sind. Wahrscheinlich ist die Wahl zum Landesparlament sogar insgesamt fehlerhaft“, sagte der CDU-Politiker.

SPD wirft CDU "parteipolitische Instrumentalisierung" der Wahl vor

Aus der Wahl seien bis heute "keine ernsthaften politischen Konsequenzen" gezogen worden, erklärte Evers mit Blick auf den damaligen Innen- und heutigen Bausenator Andreas Geisel. "Im Gegenteil: Der verantwortliche SPD-Senator sitzt weiterhin im Senat. Frau Giffey hat mit der gleichen Koalition weitergemacht wie vorher. Und bis heute gibt es keine Aussagen dazu, wie man es bei der nächsten Wahl besser machen will. Geschweige denn, wie man sich auf eine mögliche Wiederholung der Wahlen vorbereitet.“

Die Landesgruppenvorsitzende der SPD im Bundestag, Cansel Kiziltepe, wies die Kritik der CDU deutlich zurück. Sie sagte dem Tagesspiegel: "Die Wahlen werden von den Bürgerinnen in Selbstorganisation durchgeführt. Somit bilden die Wahlhelferinnen das Fundament der Organisation der politischen Beteiligung. Es ist ein Trauerspiel, dass die CDU versucht, diese Schwierigkeiten parteipolitisch zu instrumentalisieren."

Auch Kiziltepe nahm am am achstündigen Ausschuss am Dienstag teil. Sie sagte danach: "Eine Bundestagswahl ist in einer Millionenstadt und in Zeiten der Pandemie eine besondere Herausforderung. Nichts desto trotz hat die mündliche Anhörung am heutigen Tag gezeigt, dass es Pannen in einzelnen Stimmbezirken von verschiedenen Wahlkreisen gegeben hat." Daraus müsse man für kommende Wahlen lernen. Der Berliner Senat hat deshalb eine eigene Kommission gegründet.

Wiederholung, oder nur eine Rechtsverletzung?

Zuvor hatte die Berliner CDU schon ein 16-Punkte-Papier mit Vorschlägen für künftige Wahlen vorgelegt. Die Christdemokraten fordern darin unter anderem zusätzliche Pop-up-Wahllokale für die Briefwahl beispielsweise in Einkaufszentren und funktionierende Kontrollen bei der Übergabe der Wahlunterlagen. Großveranstaltungen wie den Berlin Marathon soll es parallel zu Wahlen in Berlin künftig nach Überzeugung der CDU nicht mehr geben.

Die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis zog kurz nach dem Wahldebakel die Konsequenzen und trat von ihrem Posten zurück. Sehen die Abgeordneten Thiels Einspruch als berechtigt an, könnten die Wahlen in den sechs Berliner Wahlbezirken für ungültig erklärt werden und müssten nachgeholt werden. Es ist aber auch möglich, dass lediglich eine Rechtsverletzung festgestellt wird.

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