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In wenigen Wochen ist es soweit: In Berlins Grundschulen werden wieder zahlreiche Erstklässler:innen eingeschult.

© Ottmar Winter / PNN

Schulstart mit Hindernissen: Viele Berliner Erstklässler ohne Voruntersuchung eingeschult

Wegen Corona fielen 2020 etliche Einschulungsuntersuchungen aus. Auch jetzt wird es nicht bei allen Erstklässlern klappen.

Einen Ball fangen, etwas ausschneiden und die Pluralform von „Fahrrad“ bilden: Das sind motorische und sprachliche Fähigkeiten, über die ein Kind kurz vor der Einschulung eigentlich verfügen sollte.

In der Praxis sei dem aber oftmals nicht so, sagt Anna Maria Althelmig. Viele Kinder hätten Schwierigkeiten mit eben diesen grundlegenden Fähigkeiten. Die 34-Jährige ist Sprecherin des „Jungen Verbands Bildung und Erziehung“ (Junger VBE) in Berlin und als Sonderpädagogin an einer Grundschule tätig.

Bundesweit werden Kinder vor der Einschulung amtsärztlich untersucht. Der Senatsverwaltung für Gesundheit zufolge dienen diese Untersuchungen dazu, „die Entwicklung und Gesundheit des Kindes im Hinblick auf das Lernen und den Schulalltag ärztlich zu beurteilen.“

Wie in der Grundauswertung der Einschulungsuntersuchung nachzulesen ist, wurde 2017 festgestellt, dass in Berlin 60,3 Prozent der Kinder aus unteren Statusgruppen, also aus sozial schwächeren Familien, sprachliche Defizite aufweisen. Laut Althelmig sei das Untersuchungsergebnis daher ein wichtiger Parameter für Lehrkräfte, um die Schulfähigkeit eines Kindes einzuschätzen und um über Fördermöglichkeiten zu entscheiden.

Durchgeführt werden die Einschulungsuntersuchungen vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD), der ein Teil des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) ist. In Berlin sind laut Auskunft der Senatsgesundheitsverwaltung 84 Ärzt:innen in Vollzeit für den KJGD tätig.

Melden Eltern ihr Kind im Herbst für die Einschulung im kommenden Schuljahr an, erhalten sie Informationen zur Einschulungsuntersuchungen. Schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie sei der KJGD laut Kinderarzt Steffen Lüder berlinweit unterbesetzt gewesen. Der 55-Jährige betreibt eine Praxis in Hohenschönhausen. Mit Beginn der Pandemie habe sich die Lage verschärft:

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Einerseits habe man versucht, Kontakte zu minimieren und daher weniger Einschulungsuntersuchungen durchgeführt. Andererseits seien Ärzt:innen des KJGD anfangs von ihrer eigentlichen Arbeit abgezogen und bei der Nachverfolgung von Corona-Infektionen eingesetzt worden, sagen Lüder und Althelmig. 

Die Senatsgesundheitsverwaltung bestätigt, dass „Mitarbeiter:innen des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in die Pandemiebewältigung“ mit eingebunden worden seien. Deshalb hätten für das Schuljahr 2020/2021 weniger Einschulungsuntersuchungen durchgeführt werden können.

Nach Auskunft der Senatsverwaltung für Bildung konnten beispielsweise für das nun endende Schuljahr im Bezirk Pankow rund 2460 Kinder vor der Einschulung untersucht werden. Bei rund 2140 Kindern war dies dagegen nicht der Fall. Ähnliche Verhältnisse finden sich in Marzahn-Hellersdorf: Hier nahmen rund 1600 Kinder an einer Einschulungsuntersuchung teil, bei etwa 1480 Kindern wurde sie nicht durchgeführt. In einigen Bezirken wie beispielsweise in Neukölln, wo rund 3130 Kinder untersucht wurden und nur rund 390 Kindern nicht, sieht die Lage besser aus.

Ausgefallene Untersuchungen mit Folgen

Die Einschulungsuntersuchung ist „die einzige staatliche Untersuchung, auf die es einen gesetzlichen Anspruch gibt“, sagt Lüder. Die Berliner Bezirke konnten dieser Vorgabe bei vielen Kindern für das Schuljahr 2020/2021 nicht nachkommen. Dem Senat zufolge habe dies aber nicht zu Problemen bei den letztjährigen Schulanfänger:innen geführt.

Sonderpädagogin Althelmig berichtet jedoch, dass zwar „nicht super viele, aber schon zwei oder drei“ ihrer Schüler:innen ohne Einschulungsuntersuchung große Schwierigkeiten gehabt hätten. Diese Kinder müssten nun in der ersten Klasse verweilen, also ein Jahr länger die Grundschule besuchen. Das zähle zwar nicht als Sitzenbleiben, reiße die Schüler:innen aber aus ihrer gewohnten Klassenumgebung.

„Durch den Lockdown sind ja viele Kinder auch nicht in die Kita gegangen,“ teilweise monatelang sagt Kinderarzt Lüder. Vor allem bei ohnehin schon benachteiligten Kindern habe dies zu „noch größeren Rückständen in der Entwicklung geführt.“ Bei einigen Schüler:innen von Althelmig wäre es „gut gewesen, die hätten noch ein Jahr in der Kita gehabt.“ Vor der Corona-Krise wäre das bei der amtsärztlichen Untersuchung aufgefallen. Mit Ausbruch der Pandemie wurden einige Kinder also verfrüht eingeschult.

Für das Schuljahr 2021/2022 sieht die Lage bei den Einschulungsuntersuchungen laut Gesundheitsverwaltung besser aus. Man gehe davon aus, dass berlinweit schätzungsweise „rund Dreiviertel der Einschüler:innen eine entsprechende Untersuchung bis zum Beginn des neuen Schuljahres erhalten haben werden.“

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Lehrerin Anna Maria Althelmig erzählt, dass in dem Bezirk, in dem sie als Lehrkraft tätig ist, die Schulen im Herbst 2020 in eine Vorauswahl für die Einschulungsuntersuchungen mit eingebunden wurden. Sie habe zusammen mit Kolleg:innen die Kinder bei der Schulanmeldung im Herbst 2020 kennengelernt und eine erste Einschätzung zu ihrer Schulfähigkeit getroffen. Dazu habe das Schulamt Beobachtungsbögen an die Schulen verteilt.

Das pädagogische Personal sollte mithilfe dieser Bögen beurteilen, „ob nochmal eine schulärztliche Untersuchung notwendig“ sei, sagt Althelmig. So sollte sichergestellt werden, dass wegen der Pandemie zwar nicht alle Kinder, aber doch die mit einem besonderen Untersuchungsbedarf amtsärztlich untersucht werden. Der Aufwand für das Schulpersonal sei enorm gewesen: Bei etwa 120 Anmeldungen und rund 30 Minuten, die sie und ihre Kolleg:innen für jedes Kind gebraucht hätten, habe sie zweieinhalb Wochen lang nichts anderes gemacht als diese Beobachtungsbögen auszufüllen.

„Man kann schon sagen, dass die Entlastung, für die man bei den Schulärzten gesorgt hat, zu einer Belastung an den Schulen geworden ist,“ sagt die Lehrerin. Sie betont, dass sie Pädagogin und keine Ärztin sei und dass ihr und ihren Kolleg:innen bei der Beurteilung der einzuschulenden Kinder sehr viel Verantwortung zugekommen sei.

Für ausreichend Personal sorgen

Die 34-Jährige spricht sich daher im Namen ihres Verbandes dafür aus, dass der KJGD die Einschulungsuntersuchungen wieder vollständig übernehme. Sollten die Schulen auch in Zukunft die Schulämter bei der Durchführung der Untersuchungen unterstützen, müssten angesichts der Personalengpässe„ entsprechende personelle Kapazitäten in die Schulen gesteckt werden“, sagt Anna Maria Althelmig.

Kinderarzt Steffen Lüder ist es ebenfalls wichtig, dass die Einschulungsuntersuchungen wieder bei allen Kindern durchgeführt werden. Seiner Meinung nach sei es „gut, dass es einen parallelen Sektor gibt“, nämlich die Amtsärzt:innen, die Kinder auf ihre Schultauglichkeit hin untersuchen. Als Kinderarzt habe er nicht die Zeit, die Schulfähigkeit seiner Patient:innen festzustellen. Er fordert, der KJGD müsse „zahlenmäßig aufgestockt werden".

Es werde „davon ausgegangen, dass zukünftig wieder alle Kinder eines Jahrgangs zur Einschulung untersucht werden können“, teilt die Senatsgesundheitsverwaltung mit. Das hofft auch Althelmig, denn es sei keine Lösung „das, was man nicht anders geregelt kriegt, den Schulen aufzutragen.“ Ob ein Kind zu Schulbeginn fangen, ausschneiden und Pluralformen bilden kann, kann schließlich wegweisend sein für seine weitere Schullaufbahn.

Anja Neu

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