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In inklusiven Schulen lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam.

© Fredrik von Erichsen/dpa

Wie steht es um die Inklusion in Berlin?: „An den Übergängen haben wir große Probleme“

Jede Schule soll jedes Kind mit Förderbedarf aufnehmen können, sagt Sybille Volkholz. Nach neun Jahren als Vorsitzende des Fachbeirats Inklusion hört sie auf – und zieht Bilanz.

Frau Volkholz, mit diesem Schuljahr endet die Einsetzungszeit des dritten Fachbeirats für Inklusion. Sie haben diesem Gremium nun insgesamt neun Jahre vorgesessen. Was hat der Beirat in der Zeit geschafft?
Der Beirat wurde 2012 eingesetzt, um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Berlin zu begleiten, laut der Menschen mit Behinderungen Anspruch auf integrativen oder inklusiven Unterricht haben. Das damalige Konzept der Senatsverwaltung war hoch umstritten, und der Beirat sollte auf der Grundlage der damaligen gravierenden Streitpunkte Empfehlungen erarbeiten und deren Umsetzung begleiten. Aus diesen Empfehlungen hat die Senatsverwaltung Eckpunkte erarbeitet, die insgesamt bis heute fast umgesetzt sind.

Mittlerweile besuchen 72 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Regelschule, es gibt den Rechtsanspruch auf den Besuch einer Regelschule. Mit den Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungszentren sind gute Unterstützungsstrukturen geschaffen worden. Schulen bekommen für die Förderbedarfe Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache, also LES, eine verlässliche Grundausstattung und es stehen heute erheblich mehr Mittel zur Verfügung. Zum Beispiel sind die Gelder für Schulhelfer:innen mehr als verdoppelt worden, ebenso die Zahl der Lehrkräftestellen für Inklusion in der Regelschule.

Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Als ich 1989 und 1990 Bildungssenatorin sein durfte, war inklusive Bildung ein Schwerpunkt unserer Politik – nach den 20 Monaten haben 100 Berliner Grundschulen im Westteil der Stadt mit gemeinsamer Erziehung gearbeitet. Deshalb hat Frau Scheeres mich 2012 auch gebeten, den Vorsitz des Inklusionsbeirates zu übernehmen.

Eltern suchen immer noch zum Teil Jahre, um eine Schule zu finden, die ihr Kind mit Förderbedarf überhaupt aufnimmt.
Das gilt nicht für Kinder mit den Förderbedarfen LES. Diese müssen alle Schulen aufnehmen. Bei den anderen Förderbereichen klappt es in der Regel an den Grundschulen gut, da gibt es Inklusion mittlerweile seit 40 Jahren und nicht erst seit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Aber an den Übergängen haben wir große Probleme. Gerade bei Kindern mit Förderbedarf in der geistigem Entwicklung gibt es nicht genügend Plätze. Kinder gehen dann nach der Grundschule häufig doch wieder in die Förderschule. Auch die Übergänge von der Sekundarstufe I in Sekundarstufe II, in die berufliche Bildung, bereiten ganz große Probleme. Viele Jugendliche landen immer noch in den Behindertenwerkstätten. Der erste Arbeitsmarkt und die berufsbildenden Schulen sind noch nicht genug auf die Aufnahme dieser Jugendlichen vorbereitet.

Sybille Volkholz, 77, leitete seit 2012 den Fachbeirat Inklusive Schule. Sie war 1989/90 Schulsenatorin für die Alternative Liste.
Sybille Volkholz, 77, leitete seit 2012 den Fachbeirat Inklusive Schule. Sie war 1989/90 Schulsenatorin für die Alternative Liste.

© Privat

Woran liegt das?
Die Grundschulen haben längere Erfahrung auch im Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft. Die Sekundarschulen hinken in dieser Entwicklung noch hinterher, und dementsprechend fehlt es oft an gut qualifizierten Fachkräften. Der Bedarf wird auch häufig nicht schulspezifisch bei der Regionalen Fortbildung angemeldet. Jedes Oberstufenzentrum muss zwar einen Koordinator für Inklusion haben, und eigentlich gibt es auch gute Konzepte zur Qualifizierung der Lehrkräfte. In der Praxis klagen die berufsbildenden Schulen dann aber oft, ihnen fehle jemand, der speziell befähigt ist im Umgang mit Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

„Fördermittel dürfen nicht in den Vertretungsunterricht fließen“

Kann es daran liegen, dass manche Schulen gar keine Kinder oder Jugendlichen mit Förderbedarf aufnehmen wollen?
Die Haltung gibt es, aber ich würde das nie verallgemeinern. Die Quote der Kinder mit Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen, ist von 58 Prozent 2012 auf rund 72 heute gestiegen. Das bedeutet, dass der allergrößte Teil der Schulen diesen Auftrag angenommen hat. Ich würde sagen, es braucht eine Mischung aus der richtigen Haltung und Qualifizierung. Die Leuchtturmschulen, die Inklusion seit 40 Jahren praktizieren, sagen Ihnen: Wo ist das Problem? Für die ist das ganz selbstverständlich. Aber natürlich müssen wir auch mit den Ängsten umgehen.

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Diese Ängste gibt es ja durchaus auch bei Eltern der anderen Kinder. Sie fürchten, dass Kinder mit Förderbedarf den Unterricht stören oder den Lernfortschritt ihrer Kinder bremsen.
Das gilt vor allem für Kinder mit Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung. Es gab mal einen Fall an einem Gymnasium, wo ein Kind mit schweren Verhaltensproblemen in eine Klasse kam und dann ein Teil der anderen Kinder die Schule gewechselt hat. So geht's natürlich nicht. Es gibt ein Recht auf Lernen oder gelingenden Unterricht.

[Kinder mit geistiger Behinderung im Lockdown: „Mama, gibt’s meine Freunde überhaupt noch?“ (T+)]

Deshalb müssen Lehrinnen, Lehrer und die Schulen dabei unterstützt werden, dass ihnen gute Bedingungen gelingen. Für diesen Förderbereich gibt es mittlerweile gute Konzepte, auch mit der Bildung temporärer Lerngruppen. Kinder mit großen Konzentrationsschwierigkeiten können dann für eine begrenzte Zeit in einer Kleingruppe lernen.

Sie sagen ja, es sind genug Mittel da für Inklusion. Warum gelingt sie in der Praxis trotzdem oft noch nicht?
Ich beobachte an vielen Schulen, dass die zusätzlichen Ressourcen, die sie eigentlich für Kinder mit Förderbedarf bekommen haben, in den Vertretungsunterricht wandern. Das ist gang und gebe. Das ist auch eine Haltungsfrage: Schulen müssen sich zu dem Grundsatz entscheiden, dass Fördermittel nicht für den Vertretungsunterricht da sind.

„Es geht darum, die Kinder zu nehmen, wie sie sind“

Wäre denn Ihr persönliches Ziel, dass irgendwann alle Berliner Kinder mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen?
Das Ziel ist, dass in absehbarer Zeit 100 Prozent aller Regelschulen Kinder mit allen Förderbedarfen aufnehmen können. Und dass Eltern, die ihren Kindern den Besuch einer Regelschule ermöglichen wollen, nicht mehr Klinken putzen müssen, sondern in den Behörden und den Schulen Menschen vorfinden, die das zu ihrer persönlichen Aufgabe machen. Ich finde, dass sich an den Schulen wirklich schon sehr viel getan hat wie auch in der Schulverwaltung und Schulaufsicht.

Was aber noch nicht zu 100 Prozent gelingt ist, dass die Heterogenität der Kinder wirklich als Normalfall und als positiv akzeptiert wird und nicht in erster Linie als Problem. Ich meine damit auch nicht nur die Kinder mit Förderbedarfen. Lehrer klagen ja auch oft darüber, wenn in einer Klasse 80 Prozent der Kinder „nichtdeutscher Herkunft“ sind  – ein Begriff, der hoffentlich auch bald ersetzt wird. Es geht doch darum, die Kinder zu nehmen, wie sie sind, und zu versuchen, damit gute Schule zu machen.

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Die Bildungsverwaltung hat ja erst vorvergangenes Jahr 800 neue Schulplätze in Förderzentren für geistige Entwicklung geschaffen – unter Protest von Behindertenverbänden und der GEW. Widerspricht das auch Ihrem Inklusionsgedanken?
Ich habe diesen Schritt verstanden, weil die absolute Zahl der Kinder mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Die Förderzentren waren so überlaufen, dass Eltern ihre Kinder zum Teil an Regelschulen geben mussten, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollten. Und ich finde den Weg, den Eltern Wahlfreiheit zu geben, grundsätzlich immer noch richtig – auch wenn ich in den letzten Jahren etwas ins Grübeln gekommen bin. Diese beiden Parallelsysteme sind teuer, aber sie sind wohl für die Akzeptanz wichtig. Ich glaube, das Modell der Schwerpunktschulen ist eine realistische Alternative.

Schwerpunktschulen sind Regelschulen, die sich auf bestimmte Förderbedarfe spezialisieren. In jeder Klasse sitzen dort bis zu drei Kinder mit dem speziellen Förderbedarf.
In Berlin haben wir davon bisher leider erst 20. 16 davon habe ich besucht, habe ausführliche Gespräche geführt und am Unterricht teilgenommen. Ich finde das Konzept ziemlich gut. Wenn man dieses System ausbauen würde, könnte man damit, glaube ich, viele Eltern überzeugen, eine Schwerpunktschule zu wählen. Gerade im Bereich geistige Entwicklung entscheiden sich momentan viele für ein Förderzentrum, weil sie denken, das bietet ihrem Kind ein ruhigeres Umfeld.

„Meine These ist, dass Kinder an Förderschulen oft unterfordert sind“

Aber gibt es nicht wirklich Kinder, für die eine Förderschule besser geeignet ist?
Es gibt meines Wissens keine wissenschaftliche Untersuchung darüber, dass Kinder an einer Förderschule besser gefördert werden als an einer Regelschule. Meine These ist, dass die Kinder dort oft kognitiv unterfordert sind. Die Ansprache von anderen Kindern in der Grundschule kann zum Beispiel auch für ein mehrfach schwer behindertes Kind unglaublich wertvoll sein. Viel mehr, als wenn es mit anderen ähnlich schwer behinderten Kindern zusammensitzt.

Was geben Sie der nächsten Bildungssenatorin als Aufgabe mit für die nächsten fünf Jahre?
Berlin hat ein großes Problem. Es gibt mehr Geld aus als fast alle anderen Bundesländer, erreicht aber nur sehr schwache Ergebnisse bei den Schülerleistungen. Es gibt keine größere Chancenungerechtigkeit, als wenn bis zu 30 Prozent unserer Jugendlichen mit Mathe- und Lesefähigkeiten unterhalb der Mindestanforderungen die Schule verlassen. Die wichtigste Aufgabe für die nächste Koalition ist also, die Lernerfolge dieser Risikogruppe zu verbessern. Aber mit einem weiten Inklusionsbegriff: Alle Kinder müssen gefördert und darin unterstützt werden, dass sie irgendwann ein selbstbestimmtes Leben führen können. Ich meine auch nicht eine Förderung der Schwächeren unter Vernachlässigung der Stärkeren. Gute Schule fördert jedes Kind optimal.

Da wo es steht.
Da wo es steht und vor allem da, wo es noch hinkann. Das ist eigentlich noch viel wichtiger.

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