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Die Österreichische Bundesbahn betreibt europaweit die meisten Nachtzüge - und will ihr Netz weiter ausbauen.

© imago images / Rüdiger Wölk

London, Barcelona, Mailand: Wo das Berliner Nachtzugnetz wachsen könnte

Nachtzüge sollen das Reisen nachhaltiger machen. Der Senat will Berlin zum Drehkreuz dafür machen. Das Potenzial ist groß, doch es gibt hohe Hürden.

Bahnliebhaber dürften bei diesem Anblick eine Träne im Auge haben: 23 Nachtzugverbindungen gab es 1995 in Berlin. Bis 2017 schrumpfte ihre Zahl auf nur noch zwei zusammen. Zwar verkehren mittlerweile regelmäßig wieder vier Nachtzuglinien über Berlin, viele Fahrgäste wünschen sich jedoch deutlich mehr. Auch der Senat hat größere Ziele und träumt von der deutschen Hauptstadt als Nachtzugdrehkreuz in Europa.

Welche Möglichkeiten es für weitere Übernachtverbindungen mit der Bahn in Berlin gibt, hat die Senatsverkehrsverwaltung nun mit einer Studie untersuchen lassen. Sie beschreibt einige interessante Potenziale – doch klar ist auch: Die Hindernisse für weiteren Strecken sind hoch.

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Vier Nachtzuglinien verkehren derzeit über Berlin nach Wien, Budapest, Zürich und Stockholm. Zwei weitere werden bald hinzukommen: Ab Dezember 2023 wird der nächtliche Verkehr auf der Schiene zwischen Berlin und Paris wieder aufgenommen. Schon im Sommer will der private Anbieter European Sleeper aus den Niederlanden die Verbindung von Brüssel über Amsterdam und Berlin nach Prag in beiden Richtungen starten.

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Mittel- und langfristig könnten einige Routen mehr hinzukommen, zeigt nun die vom Planungsbüro Ramboll durchgeführte Studie. „Wir sehen ein deutliches Potenzial abgeleitet vom Flugverehr“, sagte Studienautor Ralf Jugelt. Die Fahrgastpotenziale leitete der vom Passagieraufkommen in Berlin ab und übertrug sie auf das vorhandene Schienennetz.

Mit mehr als 200 km/h durch die Nacht

Im Zeitraum ab 2025 könnten so auch die Linien Amsterdam-Berlin-Warschau und Berlin-Prag-Zagreb umgesetzt werden. Auch ein Zug von Berlin über München nach Mailand und Venedig hätte Potenzial, erklärte Jugelt. Nötig sei dafür aber zunächst die Fertigstellung des letzten Teils der Schnellfahrstrecke von Berlin nach Nürnberg in Franken.

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Deutlich größere Sprünge für das Netz sieht die Studie für den Zeitraum ab 2030. Unter der Bedingung, dass dann moderne Nachtzüge vorhanden sind, die mehr als 200 km/h fahren, ließen sich deutlich weiter entfernte Destinationen erreichen, führte Jugelt aus. „Das wäre für Verbindungen zur Adria ein Gamechanger.“

Als Ziele nennt die Studie Züge nach Lyon und von dort weiter bis nach Barcelona. Eine Verlängerung des Nachtzugs nach Paris bis nach Bordeaux, eine Direktverbindung von Berlin nach Rom oder über Brüssel nach London. Auch bis Belgrad könnten Züge über Wien dann fahren oder von Warschau aus bis ins litauische Vilnius.

Langfristig könnten Züge bis nach Lissabon fahren

In noch fernerer Zukunft wären gar ganz andere Distanzen vorstellbar. Genannt werden als Destinationen Direktzüge von Berlin bis nach Lissabon über Barcelona und Madrid, oder nach Sofia über Belgrad. „Hier reden wir nicht mehr über den klassischen Nachtzug“, sagte Jugelt. Zur nächtlichen Fahrt würde sich noch ein ganzer Tagestripp gesellen. Als „zusätzliches Marktsegment“ sei es dennoch denkbar.

So schön sich die Pläne auf der Europakarte machen, hinter allen stehen große Fragezeichen. Denn für den Ausbau des Nahtzugnetzes gibt es einige Herausforderungen. „Wenn das ganze langfristig stabil und den heutigen Ansprüchen angepasst sein soll, muss die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden“, sagte Jugelt.

Nachtzüge sind aktuell kaum wirtschaftlich zu betreiben

Die ist bislang kaum gegeben, erklärte Jürgen Murach aus der Abteilung Verkehr der Berliner Senatsverkehrsverwaltung: „Wir gehen davon aus, dass unter den derzeitigen Bedingungen in Deutschland eine Eigenwirtschaftlichkeit nur in Ausnahmefällen möglich ist.“ Schuld seien die hohen Trassenpreise im deutschen Schienennetz sowie die finanziellen Privilegien für den Flugverkehr. Sollen Nachtzüge finanziell attraktiv sein, müsse an beiden Stellschrauben gedreht werden.

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Ähnlich sah es Elmer van Buuren, Chef von European Sleeper. „Die Nachfrage ist da“, sagte er. Potenzial gebe es, etwa nach Norditalien, Südfrankreich oder London. Doch die derzeitigen Bedingungen machten den Betrieb kompliziert. Die Trassenpreise seien „sehr herausfordernd“. Hinzu kämen hohe Kosten für das Personal, dass während der Nacht im Dienst sei.

Schlafwagen sind absolute Mangelware

Das derzeit wohl größte Problem ist jedoch ein anderes: Es gibt zu wenige Züge. Es sei kaum noch möglich gebrauchte Waggons zu kaufen, sagte von Buuren.

Wie groß die Schwierigkeit ist, die den erhofften Nachtzug-Boom auf viele Jahre ausbremsen könnte, machte der britische Bahnexperte Jon Worth deutlich: Als die nationalen Bahnunternehmen in den Neunzigern ihr Nachtzugnetz massiv herunterfuhren, hörten sie auch auf, neue Schlafwagen zu bestellen. „Wir leiden immer noch unter der Entscheidung vor 25 Jahren, das Nachtzugnetz auszudünnen und keine neuen Züge zu kaufen“, sagte Worth. Die vorhandenen Wagen sind daher extrem alt, laut und entsprechen heutigen Komfortansprüchen oft nicht. Noch gravierender: Es gibt fast keine mehr von ihnen.

Neue Brandschutzregeln verändern den Verkehr nach Italien

Für den Aufbau neuer Linien muss also zunächst rollendes Material produziert werden. Doch für kleine Privatanbieter sei das finanzielle Risiko nicht zu stemmen. Von den nationalen Bahnbetreibern wiederum bestelle einzig die österreichische ÖBB neue Nachtzüge.

Deren Leiter für den Bereich Fernverkehr, Kurt Bauer wies in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Problem hin: Wegen Brandschutzbestimmungen in Italien dürften ab 2024 nur noch die neuen Züge der ÖBB über den Brenner in den Süden fahren. Alte Wagen seien dann auf den Strecken nicht mehr erlaubt. Auf lange Zeit dürften daher einzig die Österreicher Nachtzüge nach Italien anbieten können.

Immerhin: durch die freiwerdenden, alten Züge verbessert sich das Angebot in Deutschland. Der Nachtzug von Berlin nach Zürich soll dann nicht mehr mit jenem aus Hamburg zusammengeführt werden. Die Verbindung nach Wien solle dann auf dem schnelleren Weg über Prag fahren.

„Im Moment wäre es schwer einen Business-Case zu finden ohne staatliche Finanzierung, sagte Bauer. Dennoch glaubt er an die Zukunft der Schlafwagen. „Nachtzüge werden ein Teil der Mobilität in Europa sein. Da wird ein nachhaltiges Geschäft sein für uns und andere Anbieter.“

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