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Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich marschieren deutsche Truppen durch das Brandenburger Tor.

© Ullstein Bild

Jubiläum ohne Jubel: Heute vor 150 Jahren war Berlin erstmals Hauptstadt

Vor 150 Jahren wurde Berlin zum ersten Mal Kapitale eines vereinten Deutschlands: „Reichshauptstadt“. Doch offiziell wird daran kaum erinnert.

Dies ist nicht die Zeit großer Gedenkfeiern – aus medizinischen Gründen. Doch das kann nicht der Grund dafür sein, dass am morgigen Montag ein markantes Berliner Jubiläum offiziell so gut wie nicht zur Kenntnis genommen wird: Die Gründung der Reichshauptstadt Berlin vor 150 Jahren am 18. Januar 1871, die gleichzeitig mit der Reichsgründung stattfand.

Betretenes Schweigen herrscht vor, der Senat macht nichts, und wer bei Google nachsieht, der findet weit oben zwar die 150. Jahrestage der Berliner Gartenbauverwaltung und der amtlichen Statistik der Stadt, aber nur verschämte Querverweise dazu, dass sich auch der Status der Stadt als Zentrum des Deutschen Reichs jährt. Im Vergleich dazu war das Gedenken zum Thema „100 Jahre Groß-Berlin“ im vergangenen Jahr trotz Corona eine große Sache.

Das hat zweifellos Gründe. Denn auch die Erinnerung an die Reichsgründung selbst findet praktisch nur in der Schutzatmosphäre von mehr oder weniger virtuellen Historikertreffen statt. Zu groß ist offenbar die Angst, rechtsradikale „Reichsbürger“ auf die Straße zu treiben, die das Jubiläum vermutlich ohne Maske, aber mit Ausweisverbrennungen und ähnlichem Mummenschanz feiern würden.

Zu stark ist die – in der seriösen Historikerzunft durchaus strittige – Lesart, die Reichsgründung sei schon deshalb grundsätzlich zu verwerfen, weil sie erstens auf Kriegen mit den Nachbarn gründe und zweitens als preußischer Sonderweg den Keim des Verderbens in zwei Weltkriegen von Anfang an in sich getragen habe.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in der vergangenen Woche auf Schloss Bellevue immerhin vier wichtige Historiker offen über das Thema diskutieren lassen, seine Position aber klar umrissen: „Einen ungetrübten Blick auf das Kaiserreich, vorbei am Völkermord, an zwei Weltkriegen und einer von ihren Feinden zerstörten Republik, gibt es nicht. Es kann ihn nicht geben.“

In Berlin leben – der Traum unzähliger Landbewohner

Aber Berlin selbst? Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Stadt als Reichshauptstadt einen gewaltigen Sprung nach vorn tat, wirtschaftlich, politisch und als Magnet für Ein- und Zuwanderer vor allem aus Schlesien und anderen Regionen im Osten.

Ein – im Sinne Steinmeiers – getrübter Blick 150 Jahre zurück müsste zu dem Schluss kommen, dass dieser evolutionäre Ruck keineswegs geringere Bewegungen ausgelöst hat als der republikanisch legitimierte Zusammenschluss zur Großstadt im Jahr 1920. In Berlin leben – das war im Kaiserreich der Traum unzähliger Landbewohner, die hier beheizbare Wohnungen und leistungsfähige Straßen mit Kanalisation entweder schon vorfanden oder selbst erst bauten, denn Arbeit gab es scheinbar grenzenlos, und Geld auch, wenn man denn den richtigen Dreh fand.

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Zwar ging dem anfänglichen Aufschwung, auch angetrieben durch die Milliarden Kriegsreparationen, die das besiegte Frankreich in 1450 Tonnen Gold zu liefern hatte, schnell die Puste aus. In der Gründerkrise zerstoben kleinbürgerliche Hoffnungen auf einen schnellen Aufstieg, die sozial Abgehängten suchten Schuldige in Verschwörungsideen, wie sie der Publizist Heinrich von Treitschke verbreitete, der 1879 den Satz schrieb: „Die Juden sind unser Unglück.“

Doch alles in allem trieb die aufstrebende Reichshauptstadt die Industrialisierung voran und verhalf Unternehmen wie Siemens und Schering zum weltweiten Durchbruch. Aber auch der Weltruf von schon vorher bestehenden Forschungseinrichtungen wie der Charité erhielt dadurch massiven Rückenwind. In Anfällen leichten Größenwahns meinten viele der Einwohner, ihre junge Millionenstadt sei nun so etwas wie die Hauptstadt der Welt.

Bismarcks Einfluss auf die Hauptstadt

Der politische Prozess, der zur Reichsgründung und Hauptstadtwerdung 1871 führte, war zwar ganz entscheidend von Bismarck vorangetrieben worden, aber er hatte in gewisser Weise auch eine demokratische Legitimation. Denn die Gründung und die Ernennung Berlins gegen denkbare Konkurrenten wie Frankfurt wurden offensichtlich von einer Mehrheit der Bürger unterstützt.

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Demokratische Institutionen wuchsen in alle Richtungen, und die zunächst recht liberalen Pressegesetze lüfteten das Debattenklima, wurden dann aber rasch wieder eingesammelt. Erst wurden aufrührerische Kirchenpredigten verboten, dann würgten Bismarcks Sozialistengesetze 1878 die Demokratiebestrebungen und die Freiheit der Presse für über ein Jahrzehnt komplett ab.

Doch in den Nischen blühte das freie Wort, denn da der Reichskanzler auch den Kulturkampf gegen die katholische Kirche führte, blieben zumindest die gleichfalls antiklerikalen Witz- und Satireblätter wie der „Kladderadatsch“ erhalten, in denen die Autoren, zum großen Teil jüdische Publizisten wie Julius Stettenheim und Sigmar Mehring, beachtliche Freiheiten genossen.

Sie ergänzten den eher rustikalen und groben Humor der eingesessenen Berliner, wie er in Adolf Glaßbrenners Dialogen dokumentiert ist, um geistreiche, elegante Pointen - ein Zusammentreffen, das zusammen mit der Neigung der schlesischen Einwanderer zum Wortspiel in den ersten Jahrzehnten der Kaiserzeit jenen spezifischen Berliner Witz zeugte, der bis in die Weimarer Zeit fortwirkte.

Berlin unter der„Tripolarität“ der Machtverhältnisse

Allerdings war der politische Zuschnitt des Kaiserreichs dann auch zu sehr in der Vergangenheit verhaftet, um der gegen 1880 massiv zunehmenden Dynamik des Industriezeitalters den passenden Rahmen geben zu können. Berlin war Schauplatz einer widersprüchlich und kompliziert verfassten Machtstruktur. Der Historiker Ludger Bohnenkamp spricht von einer „Tripolarität“ der Machtverhältnisse zwischen dem Reich, dem preußischen Staat und der Stadtgemeinde Berlin, wobei die Akteure oft in Doppel- und Dreifachfunktion auftraten.

Einige Parlamentarier hatten Sitze im Reichstag, im preußischen Parlament und in der Stadtverordnetenversammlung. Das bedeutete eine enorme Arbeitsbelastung, die Gesetzgebung wurde immer komplexer und undurchschaubarer, und zudem drifteten die Mehrheitsverhältnisse in den drei Gremien zunehmend auseinander.

Wir müssen uns das Berlin dieser Jahre als ein undurchdringliches Konglomerat vorstellen, dessen Akteure kaum mehr tun konnten, als den Betrieb einigermaßen am Laufen zu halten. Parallel schwanden Einfluss und Aura des kaiserlichen Hofs, bis Wilhelm II. ab 1888 eine Ära des ausschweifenden Neoabsolutismus einläutete, die dem kaiserlichen Hofstaat und seinen Schranzen zu neuem Glanz verhalf.

Dieser bestimmte dann die Zeit der Jahrhundertwende und ermöglichte gesellschaftliche Höhepunkte wie die Eröffnung des Hotels Adlon 1907, die so in keiner anderen Stadt des Reichs denkbar gewesen wären.

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In historischen Dimensionen betrachtet war das deutsche Kaiserreich ebenso kurzlebig wie der Status Berlins als seine Hauptstadt. Die Weimarer Verfassung von 1919 räumte die Reste der Monarchie ab, und im Zweiten Weltkrieg ging dann auch die Zeit des deutschen Reichs zu Ende, dem die Bundesrepublik und die noch kurzlebigere DDR nachfolgten.

Aus der Reichshauptstadt Berlin wurde erst die besetzte Viersektorenstadt, dann ein einzigartiger Zwitter aus Bundeshauptstadt im Wartestand und „Hauptstadt der DDR“, schließlich die wiedervereinte Hauptstadt. Insofern steht der 150. Jahrestag weniger für Kontinuität über Abgründe hinweg als für die Suche nach historischen Wurzeln. Das heutige Berlin ist zwar in erster Linie das Ergebnis der bekannten weltpolitischen Verwerfungen von 1989, aber doch ohne den 18. Januar 1871 kaum in dieser Form denkbar. Der Tag hätte also ganz sicher keinen ungetrübten Blick, aber doch bedeutend mehr Aufmerksamkeit verdient.

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