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Mehr als 200.000 Menschen wurden im KZ Sachsenhausen von 1936 bis 1945 inhaftiert, Zehntausende von den Nazis ermordet.

© Paul Zinken/dpa

„Bis zweieinhalb Stunden am Tag verhandlungsfähig“: 100-Jähriger SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen ab Oktober vor Gericht

Er lebte unentdeckt in Brandenburg, bald beginnt gegen ihn in Neuruppin der Prozess wegen Beihilfe zum Mord. Gegen einen weiteren Ex-SS-Wachmann wird ermittelt.

Mehr als 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird es im Herbst zu einem neuen NS-Prozess kommen – diesmal in Brandenburg. Nachdem ein medizinisches Gutachten ihn für verhandlungsfähig befunden hat, soll Anfang Oktober gegen einen 100 Jahre alten früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen am Landgericht Neuruppin der Prozess eröffnet werden.

Durch das Gutachten sei die zeitweise Verhandlungsfähigkeit des 100-Jährigen bejaht worden, sagte eine Gerichtssprecherin am Montag dem Tagesspiegel. Der Angeklagte soll für zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag verhandlungsfähig sein. Zunächst hatte die „Welt am Sonntag“ berichtet.

Die Anklage wirft dem in Brandenburg lebenden Mann Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen vor. Er soll als SS-Wachmann von 1942 bis 1945 im KZ-Hauptlager Sachsenhausen wissentlich und willentlich Beihilfe zur grausamen und heimtückischen Ermordung von Insassen geleistet haben. Dabei soll es etwa um die Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener im Jahr 1942 und Beihilfe zur Ermordung von Häftlingen mit dem Giftgas Zyklon B gegangen sein.

Der Fall war von der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg Mitte 2019 an die Staatsanwaltschaft Neuruppin herangetragen worden. In einem weiteren Fall wird noch ermittelt – auch wegen Beihilfe zum Mord, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin am Montag sagte.

Der Beschuldigte soll ebenfalls Wachmann im KZ Sachsenhausen gewesen sein. In diesem Fall werde auch noch der gesundheitliche Zustand des Beschuldigten geprüft. Der Mann, Ende 90, lebt den Angaben zufolge in einem anderen Bundesland.

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Mord und Beihilfe zum Mord verjähren nicht. Und seit dem Münchner Urteil gegen den früheren KZ-Aufseher John Demjanjuk im Jahr 2011 besteht die Justiz nicht mehr auf den oft unmöglichen Nachweis individueller Schuld. Seither kann die allgemeine Dienstausübung in einem Lager, in dem erkennbar systematische Massenmorde stattfanden, juristisch bestraft werden. Besonders für Hinterbliebene der getöteten Lagerinsassen ist die juristische Aufarbeitung der Verbrechen wichtig.

Stephanie Bohra vom Berliner NS-Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, sagte der „Welt am Sonntag“: „Mord verjährt nicht, darum müssen sich auch ältere Semester vor Gericht verantworten. Es geht um die Aufklärung von Verbrechen, und ehemalige Häftlinge haben die Gelegenheit, zu berichten, was dort passierte.“

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Rechtsanwalt Thomas Walther, der Nebenkläger in den letzten NS-Verfahren vertritt und den Angaben zufolge auch am Neuruppiner Prozess beteiligt ist, hält diesen für notwendig: „Viele Nebenkläger gehören dem gleichen Alter wie der Beschuldigte an und hoffen auf Gerechtigkeit.“

Das KZ Sachsenhausen in Oranienburg nördlich von Berlin war 1936 als Modell- und Schulungslager der SS in Betrieb genommen worden. Dort hatte ab 1938 auch die Inspektion der Konzentrationslager, die die Lager verwaltete, ihren Sitz. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 22. April 1945 waren im KZ Sachsenhausen mehr als 200 000 Menschen inhaftiert.

Zehntausende starben an den Haftbedingungen, durch medizinische Experimente oder wurden systematisch ermordet. Um die Befreiung der Häftlinge zu verhindern, trieb die SS mehr als 30 000 auf Todesmärsche. Das KZ Sachsenhausen hatte zahlreiche Außenlager in Berlin und Brandenburg.

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