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Mehr als 100.000 von 870.000 Notrufe wurden in diesem Jahr erst nach 30 Sekunden entgegen genommen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Anrufer landen immer öfter in der Warteschleife: Notruf der Berliner Polizei ist chronisch überlastet

Kaum Anschluss unter dieser Nummer: Wer die 110 wählt, muss oft warten. Der Grund dafür: Personalnot.

Schon vorm Aldi kam ihm dieser Mann komisch vor. Stand am Eingang, als wollte er um einen Euro bitten, schaute aber nur verstohlen in den Laden, wo sein Komplize gerade Edel-Kaffeebohnen in zwei Ikea-Tüten verstaute. Sekunden später war klar, dass Anatol Wiecki einen Ladendiebstahl beobachtete. Weil er nicht der Typ ist, der einfach wegschaut, nahm er die Verfolgung auf.

Zuerst ging es vom Discounter am Maybachufer am Landwehrkanal entlang zur Pannierstraße, dort über die Brücke nach Kreuzberg, dann wieder zurück nach Neukölln. Wiecki ließ nicht locker, zückte sein Handy und rief den Notruf der Polizei. Doch unter der 110 ging niemand ran.

Viele Anrufe erst nach 30 Sekunden durchgestellt

Erst nach einer Minute und drei Sekunden meldete sich ein Beamter und nahm den Vorfall auf, viel zu spät und „mangelhaft“, wie die Polizei später in einem Schreiben an Anatol Wiecki zugab.

Das selbstgesetzte Ziel sei, einen Anruf spätestens nach zehn Sekunden anzunehmen. Der 50-jährige Exil-Kölner glaubt, dass er die Diebe hätte schnappen können, wenn die Polizei ihn nicht in die Warteschleife geschickt hätte. Als sich endlich eine Streifenwagenbesatzung bei ihm meldete, waren die beiden Täter schon verschwunden. Immerhin hatten sie ihre Beute wegen der hartnäckigen Verfolgung unterwegs weggeworfen.

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Auf Anfrage des Tagesspiegels ermittelte die Polizei, wie oft der Notruf zu spät angenommen wurde: In diesem Jahr wurden bis Mitte August 301.016 Notrufe länger als zehn Sekunden in die Warteschleife geschickt. „Dies entspricht 32 Prozent aller angenommenen Notrufgespräche.“ Im Durchschnitt wurden die Notrufe nach 16 Sekunden angenommen, eine Zahl, die sich seit Jahren verschlechtert. Von insgesamt 872.871 Notrufen wurden 37.495 in einem Zeitfenster von 20 bis 30 Sekunden angenommen, 105.473, also zwölf Prozent, konnten erst nach 30 Sekunden durchgestellt werden. Zu diesen gehörte der Anruf von Anatol Wiecki.

Der Grund für diesen Missstand ist Personalnot. Wie in jedem Callcenter hängt es vor allem von der Personalstärke ab, wie lange Anrufer in der Warteschlange hängen. 266 Beamte seien im Schichtbetrieb der Notrufzentrale tätig, davon waren zum Stichtag 17. August allerdings 48 krankgemeldet, das entspricht einer Quote von 18 Prozent. Intern wird das mit der besonderen Belastung des Dienstes erklärt. Pro Schicht fehlten derzeit im Schnitt zehn Beamte.

Ein untragbarer Zustand

Der Polizeibehörde ist klar, dass das ein untragbarer Zustand ist. „Die Polizei Berlin ist sich der tragenden und entscheidenden Rolle des Einsatzleit- und Lagezentrums für die Sicherheit der Menschen in der Hauptstadt bewusst.“ Zwar sind die meisten Anrufer nicht in akuter Gefahr, sie wollen einen Unfall melden, eine Schlägerei oder eine Lärmbelästigung, aber bei rund 300.000 Notrufen in der Warteschleife könnte auch eine ernsthafte Bedrohung oder ein schwerverletztes Opfer dabei sein. Beschwert habe sich in diesem Jahr laut Polizei allerdings bislang nur einer: Anatol Wiecki.

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Nach 17 Sekunden Warten erhält der 110-Anrufer eine automatische Ansage: „Bitte warten! Polizeinotruf Berlin. Zurzeit sind alle Notrufleitungen belegt, bitte legen sie nicht auf!“ 68.014 Anrufer taten genau das: auflegen. Die Polizei leidet wie auch die Feuerwehr unter vielen unbegründeten Anrufen, teils aus Spaß, teils aus Bequemlichkeit. Der Missbrauch von Notrufen ist strafbar, das gilt aber nur für schwere Fälle, wenn ein Unglück oder eine Straftat vorgetäuscht wird. Von den Notrufen in diesem Jahr wertet die Polizei 20 806 als „unberechtigt“.

Polizei will Krankenstand eindämmen

Ab September will die Polizei ihr „Hospitationsprogramm“ ausbauen. Dabei werden Dienstkräfte aus den örtlichen Direktionen für ein Jahr in die Notrufzentrale versetzt. 48 Kollegen sollen so gewonnen werden. Um den Krankenstand einzudämmen, sollen die Mitarbeiter außerdem besser psychosozial betreut werden, dazu gehörten Supervision und Coachingangebote.

Anatol Wiecki schlägt eine Homeoffice-Lösung vor: „Jede Privatwohnung einer Polizeibeamtin oder eines Polizeibeamten könnte mit wenig Aufwand zu einem externen Annahmeplatz umfunktioniert werden“ – allerdings nur im Notfall, wegen des Datenschutzes. Wiecki ist das mit dem Notruf schon öfter passiert, zuletzt 2019. Damals blieb er neun Minuten in der Leitung, bevor die Verbindung abbrach. Er wollte einen SUV melden, der Fußgängern im Weg stand.

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