Fünf Jahre Haft für KZ-Wachmann (101): SCHULDIG!

Richter: „Er hatte den Rauch des Krematoriums ständig in der Nase“

KZ-Wachmann Josef S. (101) am Dienstag im Prozess um Beihilfe zum Mord an Tausenden KZ-Insassen in Sachsenhausen​

KZ-Wachmann Josef S. (101) am Dienstag im Prozess um Beihilfe zum Mord an Tausenden KZ-Insassen in Sachsenhausen​

Foto: M.Firyn
Von: Matthias Lukaschewitsch und Hans-Wilhelm Saure

Es ist einer der wohl letzten Prozesse um die Tötungsmaschinerie der Nazis. Eine der letzten Gelegenheiten für die wenigen überlebenden Opfer, auf Gerechtigkeit hoffen zu dürfen …

Brandenburg/Havel – Nach 34 Verhandlungstagen steht fest: KZ-Wachmann Josef S. (101) ist schuldig. 77 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen ist SS-Wachmann Josef S. (101) jetzt vom Landgericht Neuruppin zu fünf Jahren Haft verurteilt worden – wegen Beihilfe zum Mord an Insassen in 3158 Fällen!

Mit direkten Worten wandte sich der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann (67) an den greisen Angeklagten: „Herr S., Sie wollten uns über 34 Verhandlungstage Glauben machen, dass Sie nicht der Wachmann Josef S. sind, der laut SS-Akten als Wachmann in Sachsenhausen Dienst getan hat. Herr S., wir glauben Ihnen das nicht. Es gibt keinen anderen Josef S. mit dem Geburtsdatum und dem Geburtsort in dem 100 Einwohner-Ort in Litauen, aus dem Sie selbst stammen!“

Josef S. wird mit einem Krankentransport zur Urteilsverkündung gebracht, geht dann mit Rollator in die zum Gerichtssaal umfunktionierte Sporthalle

Josef S. wird mit einem Krankentransport zur Urteilsverkündung gebracht, geht dann mit Rollator in die zum Gerichtssaal umfunktionierte Sporthalle

Foto: M.Firyn

Ohne Regung, fast unbeteiligt, hörte der Angeklagte über viele Prozesstage die Worte des Opferanwalts und des Richters – und so nahm er am Dienstag auch das Urteil auf. Der hochbetagte SS-Wachmann saß, als Einziger im Saal, bei diesen Sätzen. Er hörte die Stimme des Richters über Kopfhörer, weil er schwerhörig, aber sonst kerngesund ist.

Noch am Montag, also bis zuletzt, hatte Josef S. vehement geleugnet, in Sachsenhausen seine mörderische Arbeit verrichtet zu haben. Der Richter: „Sie haben mit Ihrer Funktion als Wachmann den Terror und die Folter gegen die Insassen befördert! Das macht Sie zum Schuldigen im Tötungsräderwerk der Nazis!“

► Das Gericht kommt mit der Haftstrafe von fünf Jahren der Forderung der Anklage nach – und bewegt sich am oberen Limit der Strafmöglichkeit. Die Verteidigung hatte Freispruch gefordert.

Richter Udo Lechtermann fand klare Worte für den KZ-Wachmann

Richter Udo Lechtermann fand klare Worte für den KZ-Wachmann

Foto: Mario Firyn

„Fünf Jahre sind Tat und Schuld angemessen. Er kann die Haftentlassung noch erleben. Eine geringere Strafe wäre dem Maß an Schuld nicht gerecht geworden. Dass fast 80 Jahre nicht gegen ihn ermittelt wurde, hat ihn nicht beschwert. Im Gegenteil: Er konnte sein Leben ja leben, ohne behelligt zu werden“, sagt Richter Udo Lechtermann.

Und weiter: „Das ungesühnte Schicksal der Überlebenden darf von der deutschen Justiz nicht vergessen werden“, deshalb erübrige sich die Frage nach der Notwendigkeit dieses Prozesses.

Beihilfe zum Mord in 3158 Fällen

Entscheidend für die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord sei die Nähe zum Tatgeschehen, die laut Richter zweifelsfrei vorhanden ist. „Näher als Sie konnte keiner stehen, der mit schussbereiter Waffe die Flucht von Insassen verhindern sollte – näher zu den Tätern, die dann diese bewachten Insassen ermorden ließen in den Genickschussanlagen des KZ-Sachsenhausen. 200 Morde in der Genickschussanlage und 400 Morde in den Gaskammern.“

Das ist rechtlich eine Beihilfehandlung.

Der Richter: „Von all diesen Taten hat Herr S. gewusst. Er stand auf dem Wachturm, sah, wie die Häftlinge ihre gestorbenen – zumeist verhungerten – Mithäftlinge zum Krematorium bringen. Er hatte den Rauch des Krematoriums ständig in der Nase. Sie, Herr S., waren drei Jahre da.“

Eine Sporthalle wurde zum Gerichtssaal umfunktioniert

Eine Sporthalle wurde zum Gerichtssaal umfunktioniert

Foto: Mario Firyn

Außerdem habe Josef S. gewusst, dass er Verbotenes tue. „Das waren die Regeln einer Mörderbande, denen Sie gefolgt sind!“, so Richter Lechtermann in seiner Urteilsbegründung. „Sie haben an Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgewirkt. Dass das, was dort passierte, verboten war, das musste jeder erkennen.“

Was bleibt von diesem Verfahren? „Josef S. hat die Chance vertan, einen Teil seiner Schuld mit einem Eingeständnis seiner Schuld oder einer Entschuldigung gegenüber den Überlebenden und Angehörigen von KZ-Insassen abzutragen“, sagt Lechtermann.

Und sendet noch einmal einen Appell an den uneinsichtigen SS-Wachmann: „Die Wahrheit, Herr S., die kennen Sie allein.“

Opferangehöriger Antoinine Gumbrecht (80) mit Tochter Lilly (23). Sie verloren Vater und Opa im KZ Sachsenhausen

Opferangehöriger Antoinine Gumbrecht (80), der seinen Vater im KZ Sachsenhausen verlor, mit Tochter Lilly (23)

Foto: Mario Firyn

Für Felix Klein (54), Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, macht das Urteil „deutlich, dass Schuld keine Altersgrenze nach oben kennt“.

Jahrzehnte lebte Josef S. unbehelligt in Brandenburg/Havel. Hat er alles verdrängt? Der Richter: „Nein, über drei Jahre in so einem Lager, die vergisst man nicht. Wenn er gewollt hätte, hätte er reden können.“

Blamables Zeugnis für Strafjustiz

Der Richter stellte der deutschen Strafjustiz ein blamables Zeugnis aus – hüben, wie drüben – denn: „Auch die Stasi hatte Herrn S. schon im Visier, wusste von seiner SS-Vergangenheit im KZ-Sachsenhausen.“ Doch die Stasi hatte kein Interesse an einem Prozess. Grund: „Eine Tochter von Josef S. war in der DDR Spitzen-Ruderin und Reisekader.“

Der Richter weiter: „Zu spät, viel zu spät, widmete sich die deutsche Justiz dem Fall von Josef S.“

Bitter: „Es wird wohl einer der letzten großen Prozesse gegen einen KZ-Wachmann bleiben, denn es gibt kaum noch Überlebende, die Zeugnis ablegen könnten von den Gräueltaten der Nazis in den Konzentrationslagern.“

Weitere NS-Verfahren in Deutschland

► Noch sechs weitere Verfahren gegen NS-Verbrecher sind aktuell in Deutschland bei der Zentralen Stelle Ludwigsburg zu NS-Verfahren geführt, sagt Oberstaatsanwaltschaft Thomas Will zu BILD. Er leitet die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.

Dazu gehören u. a. Verfahren zu Verbrechen im KZ Buchenwald, im KZ Ravensbrück (2), im KZ Neuengamme sowie im Kriegsgefangenenlager Stalag I B Hohenstein. Bereits angeklagt ist eine ehemalige Stenotypistin des KZ Stutthof.

„Ob und ggf. wann es bei den sechs Verfahren bei den Staatsanwaltschaften noch zu Anklagen und Hauptverhandlungen kommt, kann ich Ihnen nicht sagen“, so Will. „Hier spielt aber natürlich die Verhandlungsfähigkeit stets eine große Rolle.“

Die Arbeit der Zentralen Stelle dauere so lange wie „noch Strafverfolgungsaufgaben anfallen, sprich es verfolgbare Personen gibt. Nimmt man den heute verurteilten 101-Jährigen zum Maßstab, dann wären das noch einige Jahre.“

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Quelle: BILD
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