Mordmotiv: Gekränktes Ehrgefühl: Warum gibt es immer noch keine Statistik?

Afghanin Maryam H. ermordet – Brüder in U-Haft

Mayram H. wurde ermordet – ihre beiden Brüder sitzen deswegen in Haft

Mayram H. wurde ermordet – ihre beiden Brüder sitzen deswegen in Haft

Foto: Privat
Von: Björn Trautwein

Berlin – Am Abend des 7. Februar 2005 fallen nahe der Bushaltestelle an der Tempelhofer Oberlandstraße drei Schüsse, die Deutschland verändern.

Die Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü wird im Alter von 23 Jahren vom jüngsten ihrer drei Brüder ermordet. „Bereust du deine Sünden“, soll er noch gefragt haben, bevor er abdrückte.

Ihr „Verbrechen“ in den Augen ihrer Familie: Sie hatte sich von dem Mann, mit dem sie zwangsverheiratet worden war, scheiden lassen und zog mit ihrem Sohn zurück nach Berlin.

Hatun Sürücü wurde im Februar 2005 ermordet

Hatun Sürücü wurde im Februar 2005 ermordet

Foto: Bild zeitung . _von_BILD_

Es ist der Tag, an dem der „Ehrenmord“ nach Deutschland kommt. Nicht, weil es diese Taten nicht vorher schon gab, sondern niemand hatte sie bisher so genannt. Seitdem ist klar, dass Familien, Väter und Brüder ihre Töchter oder deren Partner töten aus falsch verstandenem Ehrgefühl, aus falscher Tradition. Und es ist klar, dass das nicht nur in Ländern wie Pakistan, der Türkei oder Afghanistan geschieht. Es findet mitten unter uns statt. In Stuttgart, München oder Berlin.

„Vor dem Mord an Hatun Sürücü herrschte die Vorstellung vor, dass Ehrenmorde in Saudi-Arabien, Jordanien oder in der Türkei verübt werden, aber nicht in Deutschland. Das hat sich verändert“, sagt der Berliner Psychologe und Autor Ahmad Mansour (45) dem Deutschlandfunk.

Der Tod von Hatun Sürücü führte zu einer bundesweiten Debatte über Werte und Integration. „Sie wurde zum Opfer, weil sie ihr Leben lebte, wie sie es leben wollte“, sagt der Richter damals bei der Urteilsverkündung.

Blumen und Kränze liegen neben einem Gedenkstein für die ermordete Hatun Sürücü (Archivfoto)

Blumen und Kränze liegen neben einem Gedenkstein für die ermordete Hatun Sürücü (Archivfoto)

Foto: Soeren Stache/dpa

16 Jahre nach dem Mord an Sürücü diskutiert Deutschland erneut. Wieder ist es ein Mord an einer jungen Mutter durch ihre eigene Familie: Zwei afghanische Brüder sollen am 13. Juli ihre Schwester und zweifache Mutter Maryam H. (34) ermordet haben.

Überwachungsbilder vom Bahnhof Südkreuz zeigen, wie die Brüder einen schweren Koffer in einen ICE hieven. Darin, so sind sich die Mordermittler sicher, die Leiche der Afghanin, die dann in Bayern verscharrt wurde. Seyed (22) und Sayed H. (25) sitzen seit wenigen Tagen in Untersuchungshaft.

Auch Maryam H. wollte ein eigenes Leben führen – und wurde umgebracht

Auch Maryam H. wollte ein eigenes Leben führen – und wurde umgebracht

Foto: privat
Die Brüder von Maryam H. sollen sie getötet und die Leiche in einem Koffer nach Bayern gebracht haben

Die Brüder von Maryam H. sollen sie getötet und die Leiche in einem Koffer nach Bayern gebracht haben

Foto: Bild BZ Exklusiv

Auch Maryam H. wollte ihr eigenes Leben führen, auch sie hatte sich scheiden lassen. Auch sie wollte einfach nur frei sein. Jahre nachdem sie vor Krieg und Terror aus ihrer afghanischen Heimat geflohen war, holte sie die Gewalt durch ihre eigene Familie ein: die Staatsanwaltschaft ist sich sicher: „Wir ermitteln wegen des Verdachts auf einen sogenannten Ehrenmord“, sagt ein Sprecher.

Wieder debattiert Deutschland. Über die grausamen Taten. Über falsche Ehre und Menschen, die hier Schutz suchen, aber ihre archaischen Vorstellungen von Familie mitbringen. Dabei gab es auch zwischen diesen beiden Morden immer wieder Schlagzeilen.

► 2011 wird die Detmolder Jesidin Azru Özmen (18) von ihren Geschwistern verschleppt und erschossen, weil sie sich in einen Russlanddeutschen verliebt hatte.

► Am 27. Februar 2018 versuchen der Ehemann und der Bruder die jungen Libyerin Alaa W. (17) zu töten. Sie stechen ihr ein Messer in die Brust, schlitzen ihr die Mundwinkel auf. Sie hatte sich neu verliebt, war schwanger. Sie überlebt schwer verletzt.

► Am 16. Juli 2019 wird eine 18-Jährige Afghanin in Halle von ihrem Freund mit 34 Messerstichen ermordet, nachdem sie ihm gesagt hat, dass sie sich von ihm trennen will.

Wie viele sogenannte Ehrenmorde überhaupt begangen werden, wird in Deutschland nicht offiziell erfasst. Eine Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2011 hat für die Jahre 1996 bis 2005 insgesamt 78 Fälle mit 109 Opfern zusammengetragen und analysiert. Die Kriminologen Julia Kasselt und Dietrich Oberwittler, die die Studie durchführten, kamen auf durchschnittlich sieben bis zehn Fälle pro Jahr.

Auch viele Männer unter den Opfern

In 90 Prozent der Fälle waren die Täter im Ausland geboren, 63 Prozent stammten aus der Türkei. Überraschend: 42 Prozent der Opfer waren männlich, meist die neuen Partner der Frauen.

Die Menschenrechtsorganisation „Terre des femmes“ zählt diese Taten in einer eigenen Statistik. Für 2019 sind es 12 Fälle, 2018 acht. Von 1996 bis 2005 listet die Organisation 53 sogenannte Ehrenmorde an Frauen und Mädchen auf. Doch Beratungsstellen warnen: Die Dunkelziffer ist hoch, denn wenn es beim Mordversuch bleibt, würden die Frauen oft keine Anzeige erstatten.

Seit 2009 steht das Wort „Ehrenmord“ im Duden, mittlerweile wollen viele den Begriff nicht mehr benutzen. Berlins Integrationssenatorin Elke Breitenbach (60, Linke) erntete diese Woche heftige Kritik, weil sie lieber von Femizid sprechen will. Femizid bedeutet, dass Frauen wegen ihres Geschlechts getötet werden. Ihr Argument: „Ehrenmorde“ seien Morde gegen Frauen.

Experten sind sich uneins. „Terres des Femmes“ beharrt auf dem Begriff „Ehrenmord“, auch wenn er nichts mit Ehre, sondern Ehrlosigkeit zu tun hat. Aber: „Gewalt im Namen der Ehre wird in sehr streng patriarchalischen Gesellschaften ausgeübt“, so die Vorsitzende Godula Kosack in einer Pressemitteilung ihrer Organisation.

Die Buchautorin Susanne Kaiser (40) sagt dagegen im Deutschlandfunk: „Das Grundmuster für Morde an Frauen ist immer dasselbe: Männer fühlen sich gedemütigt, weil Frauen selbstbestimmt ihre eigenen Entscheidungen treffen. Männer denken, dass Frauen ihnen gehören.“ Deshalb solle man von Femiziden sprechen. Ihr Argument: In Deutschland erlebten Frauen alle viereinhalb Minuten Gewalt durch ihre Partner oder Ex-Partner, so die offizielle Polizeistatistik für 2019. Soll heißen: Gewalt geht von Männern aus, egal woher sie kommen.

Psychologe Mansour hält dagegen am Begriff „Ehrenmord“ fest und „Femizid“ für falsch verstandene Toleranz. Dem Tagesspiegel sagte er: „In der Gesellschaft herrscht kaum ein Wahrnehmungsbewusstsein für die Probleme, die es bei der Integration von Migranten gibt. Sehr viele verdrängen oder relativieren diese Probleme. Bei Ehrenmord wird von Femizid gesprochen, vom allgemeinen Phänomen von Gewalt gegenüber Frauen.“

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Benjamin Jendro, Sprecher der Polizeigewerkschaft GdP, findet die Diskussion über Worte ärgerlich. „Es handelt sich sowohl um einen Ehrenmord als auch einen Femizid“, sagte er dem „Focus“ und fordert die Beteiligten zum Handeln auf: „Die Politik muss Konzepte erarbeiten, wie derart grauenvolle Taten verhindert werden können.“

Denn: „Die meisten Tötungsverbrechen in Deutschland sind von Herkunft und sozialer Schicht losgelöste Beziehungstaten. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass dem Ehrbegriff in bestimmten kulturellen Kreisen und patriarchalischen Strukturen eine besondere Bedeutung beigemessen wird und Frauen in diesen nicht als gleichberechtigte Menschen gelten.“

Afghanin (34) in Berlin ermordetMaryam H. lebte in Todesangst vor ihren Brüdern

Quelle: BILD

Auch die Vorsitzende von „Terres des Femmes“ Menschenrechte für die Frau e. V. mahnt: „Ehrenmorde sind die Spitze des Eisberges, darunter verbirgt sich die oft langjährige Unterdrückung und Zwangsverheiratung von Mädchen und Frauen, die zahlenmäßig in Deutschland nicht erfasst ist.“ Sie fordert deshalb eine Studie über das Ausmaß von Früh- und Zwangsverheiratung und „Ehrenmorden“. Und Aufklärung an Schulen, die „nicht früh genug beginnen könne.“ Das Ziel: „Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen.“

Gabriele Kriegs (61), Leiterin des Frauenhauses der Caritas, schließt sich dem an. Der BILD sagt sie: „Es fehlt an Studien zum Thema. Wir wissen viel zu wenig über das Phänomen.“ Sie fordert außerdem mehr Beratungsstellen und Schutzplätze: „Viele Frauen wissen nicht, wo sie Hilfe bekommen, da müssen wir für mehr Stellen sorgen. Außerdem braucht es Platz in Frauenhäusern und anderen Schutzräumen. Gerade wenn Frauen von der ganzen Familie bedroht werden, ist das besonders wichtig.“

Denn in einem sind sich alle Experten und Politiker einig: Morde wie die an Maryam dürfen nicht passieren. Sie zu verhindern, ist unser aller Aufgabe. Egal, wo wir geboren sind.

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