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Die Orgel ist das “Instrument des Jahres” : Klang des Universums

Eine Königin, die es spielend mit einem ganzen Orchester aufnimmt: Im Jahr 2021 soll die ganze Vielfalt der Orgel erlebbar werden.

Die Orgel ist das "Instrument des Jahres" : Klang des Universums

Ein mechanisch ultrapräzises Meisterwerk. Die Orgel in der Potsdamer Nikolaikirche.Foto: Sebastian Gabsch/PNN

465 Kilometer zu Fuß: Im Herbst 1705 macht sich der junge Johann Sebastian Bach auf den Weg, um einen Organisten kennenzulernen, Dietrich Buxtehude, der in Lübeck an der Marienkirche seinem Instrument unerhörte Klänge entlockt. Bis nach Thüringen, ins kleine Arnstadt, wo Bach selber Organist ist, hat sich der Name Buxtehudes herumgesprochen. Und der 20-jährige Bach will von ihm lernen. Er erwirkt bei seinem Arbeitgeber die Erlaubnis für eine vierwöchige Abwesenheit und bleibt dann fast vier Monate in der Hansestadt an der Trave. Er sei „zu Lübeck“ gewesen, „um daselbst ein und anderes in der Kunst zu begreiffen“, gibt er selbstbewusst gegenüber dem Arnstädter Konsistorium zu Protokoll. Dieser eigenmächtig verlängerte Bildungsurlaub legt den Grundstein dafür, dass Johann Sebastian Bach der größte Komponist aller Zeiten wird.

Auch für Ulrich Eckhardt war der Weg zur Orgel ein langer. Neben seiner akademischen Ausbildung zum Juristen hatte er in Freiburg und Berlin Klavier und Dirigieren studiert, war am Theater Münster als Probenpianist angestellt. Dann aber schlug er doch eine andere Laufbahn ein, wurde erst Kulturreferent in Bonn und 1973 Intendant der Berliner Festspiele, die er bis 2001 leitete. Nach dem Abschied aus dem Berufsalltag wollte er zurück zur Musik, begann sich systematisch am Klavier den „Kontinent Johann Sebastian Bach“ zu erschließen – und wurde bald vom Wunsch erfasst, diese Entdeckungsreise auf der Orgel fortzusetzen.

Organisten müssen die menschliche Physis überlisten

Eckhardt ließ sich vom Pfarrer seiner Zehlendorfer Gemeinde den Schlüssel zur Kirche geben, übte Tag und Nacht, tastete sich hinein in die Feinheiten der Pfeifenwerke. In Dahlem wirkt er seitdem als Organist ehrenhalber, im Umland gibt er Benefizkonzerte, um historische Instrumente zu retten. Das tägliche Exerzitium an den Tasten und Pedalen ist dem 86-Jährigen mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden.

„Als Pianist kann man zwei Wochen pausieren und dann wieder dort weitermachen, wo man aufgehört hat“, erzählt der Spätbekehrte. „Bei der Orgel geht das nicht. Weil sie dem Spieler abverlangt, in drei Ebenen zu denken, was eigentlich der menschlichen Physis widerspricht.“

Die Gliedmaßen so zu koordinieren, dass man mit den Händen zwei Manuale bedienen und gleichzeitig noch mit den Füßen auf den Pedalen Stütztöne oder gar Melodien spielen kann, das erfordert Training. Hinzu kommt die geistige Vorarbeit, bei der sich der Organist entscheiden muss, welche Klangfarben des Instruments er für seine Interpretation nutzen möchte. Bei komplexen Stücken kann sogar ein Assistent vonnöten sein, der während der Aufführung die entsprechenden Register zieht.

Doch der Aufwand lohnt sich, findet Ulrich Eckhardt. Denn die Orgel bietet dem Spieler faszinierende Möglichkeiten. „Über die Tastatur steuere ich Luft aus dem Blasebalg in die Pfeifen, durch den permanenten Luftstrom erwacht das Instrument zum Leben“, schwärmt er. Ein fundamentaler Unterschied zur Mechanik des Klaviers: „Ich spiele mit Luft und schlage nicht Saiten aus Stahl an.“ Die Mönche des Mittelalters erkannten in diesen vom Wind erzeugten Tönen den Klang des Universums, der nie versiegende Luftstrom symbolisierte für sie die Unendlichkeit. Darum holten sie das Instrument aus der weltlichen Sphäre in die Kirchen.

Die Orgel ist das "Instrument des Jahres" : Klang des Universums

Organist Ulrich Böhme in der Leipziger Thomaskirche.Foto: dpa/Grubitzsch

Erfunden hat das Prinzip bereits im dritten Jahrhundert ein griechischer Tüftler. Im Römischen Reich wurden die Ur-Orgeln bei Spektakeln in den Arenen genutzt, von Byzanz gelangte im achten Jahrhundert dann das erste Instrument an einen Königshof in Mitteleuropa, als Gastgeschenk an Pippin den Jüngeren. Archaische Instrumente waren das zunächst. Es gab keine Tastatur, sondern es musste jeweils eine Holzlatte herausgezogen werden, damit Luft in eine Pfeife strömen konnte.

Im 17. Jahrhundert war das Instrument technisch voll ausgereift. Der großräumige Klang mit der Möglichkeit zu starken Affekten entsprach dem barocken Kunstgeschmack. Neben der begleitenden Funktion im Gottesdienst bildet sich nun auch die virtuose, konzertante Orgelmusik heraus. In der Klassik steht man dieser Überwältigungsästhetik dann eher kritisch gegenüber, erst die Romantiker begeistern sich erneut für die Möglichkeiten des Instruments. Gigantische Orgeln werden gebaut, die es spielend mit der Klangfülle großer Orchester aufnehmen.

„Jede Orgel ist ein Unikat mit eigenem Charakter“, sagt Ulrich Eckhardt, der viel herumgekommen ist in Stadt- und Dorfkirchen. „Eine Orgel will aufgrund ihres solitären Charakters vom Spieler erobert werden, manche widersetzen sich, andere kommen ihm entgegen.“ In jedem Fall aber erfüllt ihn beim Spielen der Instrumente höchster Respekt vor den Menschen, die sie geschaffen haben. „Orgelbau ist Kunsthandwerk in höchster Vollendung, jede Orgel ein Meisterwerk mechanischer Präzision“, betont er. Und höchst komplex im Aufbau: Strukturiert wird die Orgel in Registern, die jeweils einen Umfang von viereinhalb Oktaven haben. Benannt werden sie nach der Klangfarbe, die sie repräsentieren. Sie heißen also Glockenspiel oder spanische Trompete, Blockflöte, Gambe, Posaune, Dulcian, Fagott, Gemshorn, Zimbel oder Oboe. Es gibt sogar das Register der „vox humana“, das die menschliche Stimme imitiert.

Die tiefsten Töne kann man nicht hören – aber spüren

Selbst bei mittelgroßen Orgeln entsteht schnell ein ganzer Wald aus Pfeifen. Die Sauer-Orgel im Berliner Dom kommt auf 7269. Kein Wunder, dass die Orgel seit der Barockzeit als „Königin der Instrumente“ verehrt wird. Die größten Pfeifen können eine Länge von zehn Metern erreichen, ihr Klang ist so tief, dass er für menschliche Ohren jenseits der Hörbarkeitsgrenze liegt. „Aber diese Töne sind physisch spürbar“, erklärt Ulrich Eckhardt, „der Infraschall wirkt auf die gasgefüllten Hohlräume des Körpers“. Und stimuliert damit das Gefühl von Transzendenz.

Seit 2017 gehört der deutsche Orgelbau zum immateriellen Kulturerbe, bundesweit haben sich 2000 Fachleute in 400 Handwerksbetrieben in diesem Bereich spezialisiert. Die 50 000 Orgeln im Land werden von 3500 hauptamtlichen Organisten genutzt sowie von Zehntausenden ehrenamtlichen. Dass die Orgel ausgerechnet 2021 zum „Instrument des Jahres“ erklärt wurde, hat sich in Pandemiezeiten als glückliche Entscheidung herausgestellt: Denn nur in Kirchen darf derzeit legal Livemusik vor anwesendem Publikum erklingen, im Rahmen von Gottesdiensten. Und so kann der Landesmusikrat Berlin sein Hauptprojekt des „Orgelbands“ realisieren, das sich als klingender Kalender Tag für Tag durch die Stadt und das Brandenburger Umland ziehen soll (weitere Infos unter www.landesmuikrat-berlin.de).

Konzerthäuser sollten ihre Orgeln besser nutzen

Für die Zeit nach Corona allerdings mahnt Ulrich Eckhardt an, über liturgische Inhalte hinauszudenken. Wenn die Kirchen angesichts sinkender Mitgliederzahlen neue Besucher gewinnen möchten, findet er, sollten sie sich verstärkt als Orte für Kultur definieren, Künstlerinnen und Künstler aller möglichen Gattungen und Stilrichtungen ihre Räume öffnen. Gleichzeitig müssten aber auch die Orgeln, die jenseits der Gotteshäuser in profanen Versammlungsstätten existieren, intensiver für Konzerte genutzt werden. Die Orgel-Reihe in der Berliner Philharmonie geht natürlich auf Eckhardts Initiative zurück.

Johann Sebastian Bach übrigens hat sich damals in Lübeck nicht um die Nachfolge Buxtehudes an der Marienkirche beworben, obwohl der verehrte Meister fast 70 Jahre alt war und die Stellung in der Hansestadt lukrativ. Doch nach gängiger Sitte hätte Bach die Tochter seines Vorgängers heiraten müssen – und die war zehn Jahre älter als er. Zudem wartete in Arnstadt seine Verlobte Maria Barbara. Sie wurde dann tatsächlich seine Ehefrau und hat ihn auf den nächsten Karrierestationen als Organist in Mühlhausen und Weimar begleitet. Drei Jahre nachdem Bach in Köthen seine erste Kapellmeisterstelle antreten konnte, aber starb sie, erst 36-jährig. Den Ruhm ihres Mannes als Leipziger Thomaskantor durfte sie nicht mehr miterleben.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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