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Der 2500-Jahres-Plan : Weltenrettung made in China

In „Die wandernde Erde“ flieht die Menschheit vor der sterbenden Sonne. Nach der Verfilmung gibt es nun auch eine gelungene Comic-Adaption des Bestsellers.

Der 2500-Jahres-Plan : Weltenrettung made in China

Apokalyptische Vision: Eine Szene aus „Die wandernde Erde“.Foto: Splitter

Die eigene Heimat für immer zu verlieren, ist eine der der schlimmsten Erfahrungen, die man als Mensch machen kann. Was jedoch, wenn die gesamte Menschheit ihre Heimat verliert? Und was, wenn die einzige Rettung der Heimat darin besteht, sie von ihrem angestammten Ort zu entfernen?

In diesem äußerst ungemütlichen Szenario befinden sich die Menschen in „Die wandernde Erde“ (Splitter, 128 S., 25 €). Die Comic-Adaptation basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte des chinesischen Star-Autors Cixin Liu, der mit „Die drei Sonnen“ einen der erfolgreichsten Science-Fiction-Romane der vergangenen 20 Jahre vorgelegt hat.

Obwohl der Roman und seine zwei Nachfolge-Bände den Ruhm von Liu begründet haben, dürfte „Die wandernde Erde“, die bereits 2000 veröffentlicht wurde, mittlerweile um einiges bekannter sein, da sie 2019 mit großem Budget in China verfilmt wurde und aktuell auf Netflix zu sehen ist.
Die Geschichte eignet sich in der Tat für einen Kino-Blockbuster: Im Jahr 2070 erkennt die Wissenschaft, dass sich die Sonne in naher Zukunft zu einem Roten Riesen ausdehnen und die Erde verschlingen wird.

Die Menschheit fasst einen radikalen Entschluss, um den Planeten und sich selbst zu retten: Auf der Erdoberfläche werden 12 000 riesige Fusionstriebwerke installiert, um den Planeten aus dem Sonnensystem zu schieben und zum nächsten erreichbaren Stern Proxima Centauri zu befördern. Entfernung: 4,2 Lichtjahre. Reisedauer: 2500 Jahre.

Unser Feind, die Sonne

Die Triebwerke, die die Größe von Bergen haben, werden in Nordamerika und Asien installiert, denn nur hier sind die Kontinentalplatten stabil genug, um den gigantischen Schub auszuhalten, mit dem der Planet erst gebremst und dann auf seine 100 Generationen überdauernde Reise geschickt wird. Der Brennstoff für die Fusionsreaktoren ist normales Felsgestein, weshalb ein Großteil der irdischen Gebirge abgetragen werden muss.

Und damit ist es natürlich nicht getan: Während auf der Erde vor Beginn der „Wanderung“ bereits unerträgliche Temperaturen herrschen und siedend heißer Regen vom Himmel fällt, wird die Oberfläche kurz danach von Ozeanen überschwemmt, die mit wachsender Entfernung zur Sonne zu Eiswüsten gefrieren. Die Menschheit zieht sich in unterirdische Städte zurück und widmet sich hier nun ihrer einzigen Aufgabe: Die Triebwerke am Laufen zu halten und zu überleben.

Der 2500-Jahres-Plan : Weltenrettung made in China

Eine weitere Seite aus „Die wandernde Erde“.Foto: Splitter

Die namenlose Hauptfigur ist Chinese und gehört zur ersten Generation, deren Leben völlig im Zeichen der Flucht vor der Sonne steht, und für die der sterbende Stern kein Lebensspender mehr ist, sondern der Inbegriff der Vernichtung. Eine technokratische Weltregierung, die Koalition, führt die Menschheit durch diese gewaltige Anstrengung.

Da bleibt nicht mehr viel Platz für Kunst, Philosophie und Religion: „Die Menschen sahen ein, dass Gott, wenn es ihn denn gab, ein Arschloch war“, fasst die Hauptfigur die emotionale Verfassung einer Spezies zusammen, die sehr viel mehr verliert, als nur ein heliozentrisches Weltbild.

Zynisch betrachtet ist es fast wie ein Rückschritt in ein geozentrisches Weltbild, denn die Erde ist nunmehr der einzige verbliebene Bezugspunkt der Menschheit; tatsächlich wird sogar der Mond zurückgelassen, da er nach Verlassen der Umlaufbahn mit der Erde kollidieren würde.

Hemdsärmeliger Technikoptimismus

Liu ist ein erklärter Anhänger von Hard Science Fiction, also einem Unterzweig des Genres, dass auf naturwissenschaftliche Ernsthaftigkeit Wert legt. Dementsprechend versucht er das albtraumhafte Szenario möglichst physikalisch korrekt zu beschreiben, es gibt sogar einen Anhang, in dem diverse astronomische Begriffe und Phänomene erklärt werden.

So wirkt das Geschehen bei aller Megalomanie glaubhaft, doch obwohl sich die Geschichte wie ein Triumph menschlicher Ingenieurskunst lesen müsste, als ein Sieg der Technik über die Natur, überwiegt die dystopische Atmosphäre – der nackte Kampf ums Überleben ist nun mal kein ausreichender Lebensinhalt, schon gar nicht, wenn dieser Kampf 2500 Jahre währt.

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Ob Liu dies selbst so sieht, ist unklar: In Interviews gibt sich der Autor als Technik- und Fortschrittsoptimist zu erkennen, und in der Tat erinnert „Die wandernde Erde“ mit ihrem Vertrauen darin, dass die Technik schon alle Probleme lösen könne, an die hemdsärmelig-euphorische Science Fiction des „Golden Age“ in den USA.

Kein Wunder, ist Liu doch mit der amerikanischen Science-Fiction der 50er Jahre aufgewachsen, als die USA nicht nur real sondern auch in der Fiktion zur Supermacht aufstiegen. Da China gerade eine ähnliche Entwicklung durchmacht, ist es nur logisch, dass die Geschichten von glorreichen Wissenschaftler:innen und Weltenretter:innen erneut erzählt werden, nur eben in China.

Der Staat als heimlicher Held

Aber natürlich ist nicht alles so wie einst bei Asimov und Co.: Während im Westen stets das findige Individuum die Welt rettet, ist der heimliche Held von „Die wandernde Erde“ der Staat beziehungsweise die Regierung, die die gigantische Organisations-Leistung vollbringt, die Menschen der Erde als „harmonische Gesellschaft“ an einem Strang ziehen zu lassen.

Der 2500-Jahres-Plan : Weltenrettung made in China

Das Titelbild des besprochenen Albums.Foto: Splitter

Dass die Hauptfigur keinen Namen hat und Charaktere bei Liu generell eher farblos und gefühlskalt bleiben, ist symptomatisch dafür, welche Rolle das Individuum für da Gelingen des großen Plans spielt.

Es sind auch nicht das Versagen der Technik oder der Einschlag von Meteoriten, die die Reise am meisten gefährden, sondern innere Feinde, die am Kurs der Regierung zweifeln und einen gewaltsamen Aufstand anzetteln. Dass Aufständische mit Verschwörungstheoretiker:innen gleichgesetzt werden, die brave, regierungstreue Soldat:innen niedermetzeln, hat angesichts dessen, wie in China mit Aufständen umgegangen wird, einen ziemlich unangenehmen Beigeschmack.

Gewichtige Fragen, überwältigende Optik

Aus einer postmodernen Perspektive, die längst berechtigte Zweifel an der Fortschrittsideologie klassischer Science-Fiction entwickelt hat, wirkt „Die wandernde Erde“ fast ein wenig altmodisch.

Doch auch wenn Lius Technikoptimismus naiv sein mag, die von ihm aufgeworfenen Fragen sind es nicht: Ist die Menschheit der psychologischen und ethischen Herausforderung des 2500-Jahres-Plans überhaupt gewachsen? Ist die Rettung der Erde nur eine andere Art des Untergangs?

[Weitere Tagesspiegel-Rezensionen aktueller Science-Fiction-Comics gibt es hier: Flucht ins All, Das fliegende Klassenzimmer, Die den Gottesstaat stürzen will.]

Das Antlitz des Planeten wird durch die monströse Reise derart verändert und zerstört, dass sich die Protagonisten fragen, ob sie für diese fremdgewordene Heimat all die Strapazen auf sich nehmen sollen? Macht es überhaupt noch Sinn, Kinder ist diese kalte Welt zu setzen, obwohl es ja um das Fortbestehen der Spezies geht? Ist es möglich, ein so weit entferntes Ziel zu verfolgen, ohne vorher die Hoffnung zu verlieren? Gibt es einen kollektiven Überlebenswillen?

Leider schneidet der Comic diese Fragen nur an und konzentriert sich vor allem auf die Handlung, die vom französischen Szenaristen Christophe Bec („Pandemonium“) für den Comic adaptiert wurde – was nicht schlimm ist, denn Denkanstöße gibt es genügend und es bleibt bis zum Schluss spannend.

Passend zur dystopischen Atmosphäre hat der französische Routinier Stefano Raffaele („Prometheus“, „Olympus Mons“) „Die wandernde Erde“ mit kühl-realistischem Strich in Szene gesetzt und geizt nicht mit spektakulären Panoramen: Turmhohe Flutwellen, die in der Atmosphäre gefrieren, bevor sie wieder zu Boden stürzen können, Fusionstriebwerke, die gleich elektrischen Vulkanen ins All feuern, endlose Eiswüsten, die einmal Ozeane waren, ein entvölkertes New York, unterirdische Megastädte, Meteoritenhagel – die cineastische Optik überwältigt beim Lesen fast ebenso wie der Inhalt.

Zwölf Comic-Adaptionen von Liu sind geplant

„Die wandernde Erde“ ist eine wahrhaft schwindelerregende Zukunftsvision, die trotz ihrer auf den ersten Blick reißerischen Story auch psychologisch ans Eingemachte geht und einen nach dem Lesen noch lange beschäftigen kann – womit sie in der besten Tradition klassischer Science Fiction steht.

Fans von Liu können sich schon auf Nachschub freuen: Splitter plant, insgesamt zwölf Comic-Adaptionen von Liu-Geschichten unter Beteiligung von 26 Comic-Künstler:innen zu veröffentlichen. Der erste Band, „Yuanyuans Blasen“, ist vor wenigen Tagen erschienen, „Meer der Träume“ ist für Oktober 2021 angekündigt.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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