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Das Leid der Ukraine betrachten : Im Theater des Todes

Der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein gespenstisch naturalistisches Schauspiel. Ein Gastbeitrag.

Das Leid der Ukraine betrachten : Im Theater des Todes

Das Akademische Dramatheater in Mariupol nach einem russischen Luftangriff.Foto: IMAGO/ITAR-TASS

Was es heißt, im Exil zu leben, weiß er aus eigener Erfahrung. Auch deshalb setzt ihm der russische Krieg gegen die Ukraine ganz besonders zu. Der Schriftsteller Bora Ćosić, desillusionierter Jugoslawe, hoffnungsvoller Europäer und seit drei Jahrzehnten Berliner, verließ Serbien aus Protest gegen das Milošević-Regime in Richtung Istrien und floh schließlich vor den Balkankriegen.

Sein umfangreiches, bei Suhrkamp und Schöffling verlegtes Werk, ist zwischen Melancholie und Groteske, europäischer Tradition, Belgrader Surrealismus und russischem Futurismus aufgespannt. 1932 in Zagreb geboren lebt er seit drei Jahrzehnten als Schriftsteller in Berlin. An diesem Dienstag wird er 90 Jahre alt. Für den Tagesspiegel hat er aus diesem Anlass den folgenden Text verfasst.

Ins Theater geht man, um sich bewusst von der Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit zu lösen. Doch diese erreicht einen überall, es gibt keinen ganz leeren Raum, wie es auch keine völlig vom Rest getrennte Zeit gibt. Im Theater des antiken Griechenland war der Tod spürbar, die alte Welt erlebte ihre Mythologie als alltäglichen Akt, es gab wenig Unterschiede zwischen den Tragödien des Sophokles und denen in den Mauern von Troja. Ein Maßstab dieses Theaters war die Einheit des Ortes, an dem es geschah, so wie der Zeit, die unverändert schien.

Nun sehe ich, wie sich diese epische Zeit aus der Literaturtheorie auf erniedrigende Weise im Schmutz und in den Trümmern von Mariupol wiederholt. Eine russische Rakete schien eine ganze Reihe Menschen gerade im Theater dieser Stadt getötet zu haben. Es ist nicht mehr wichtig, ob diese Nachricht stimmt, sie wirkt ohnehin wie ein Symbol. Raketen töten in der Ukraine, das ganze Land ist in ein Theater des Todes verwandelt.

Die Geschichte hat uns überrumpelt, sie verläuft in ihrer verallgemeinerten Richtung, ohne Rücksicht zu nehmen auf die einzelnen Teilnehmer, sonst gäbe es nicht so viel Wirrwarr. Vor etwas weniger als einem Jahrhundert zerstörten russische Panzer die Diktatur des Nationalsozialismus, nun tritt ebendiese eiserne Ferse auf ein unschuldiges Volk, eine unbewaffnete Bevölkerung, Privatleute, Menschen. Als hätte sich das Leben verkehrt. Auch wenn das natürlich ist: Jedes Schicksal muss im Nichts enden! Vielleicht ist dieser Albtraum unvermeidlich, der sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ohne Atempause und Erleichterung abspielt, es helfen keine Einzelfälle.

Wenn im Russland Tschechows ein deutscher Arzt oder Förster auftaucht, wenn der russische Dichter Nabokov in einer westlichen Sprache zu schreiben beginnt: Die Menschen versuchen, zusammen zu sein, aber das gelingt ihnen nicht immer. Ich lebe schon lange unter Deutschen, ich weiß nicht, wohin mich das führen wird. Weil russische Projektile, wie sie uns früher von Hitler befreit haben, überall in der Ukraine töten, wo die gewöhnliche Bevölkerung nicht mehr ist, was sie war, sondern ohne eigenes Verschulden in das Publikum eines Todestheaters verwandelt wurde.

Das Leid der Ukraine betrachten : Im Theater des Todes

Bora Ćosić ist in Belgrad aufgewachsen und lebt seit 30 Jahren in Berlin.Foto: Imago

In diesem Theater sind vielleicht auch Russen, aber auf jeden Fall Kinder, die noch gar nicht wissen, welcher Nation sie angehören. Den Toten ist nicht wichtig, wem sie angehören, weil sie tot sind. Alles ist durcheinandergeraten, es gibt nichts Artifizielles auf dieser Bühne der Geschichte mehr, heute wird ein bloßes naturalistisches Schauspiel des Todes, eine bittere Gespenstersonate aufgeführt. Die Welt verliert ihre Logik, die Statue der russischen Zarin Katharina in Odessa hüllten die Ukrainer ein, um sie vor den russischen Artilleristen zu bewahren.

Doch dann tauchen Barbaren auf, die fordern, den Namen Puschkins aus der Geschichte auszulöschen, den Namen der Tschernyschewski-Straße zu ändern, Tschaikowsky in Warschau nicht mehr zu spielen. Was auch ein ukrainischer Botschafter billigt. Während ich denke, dass man aufs Neue Schostakowitsch hören sollte, besonders seine Leningrader Symphonie. Hier, in Deutschland, wird er gerade gespielt!

Was einzelne primitive Kroaten beschämt, die in der Zeit des Balkankriegs serbische Bücher aus dem Fenster geworfen haben. Unseren Krieg von vor dreißig Jahren scheint derselbe seelenlose Drachen der Geschichte verschlungen zu haben. Als hätte es die Belagerung von Sarajevo nicht gegeben. Und Sarajevo glich durch seine Lage genau einem Amphitheater, in das die Kanonen von Ratko Mladić einschlugen, einem Theater des Todes.

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Ganz gleich, dass sich Sarajevo auch weiterhin in Europa befindet, auf dem Kontinent, der das kreisförmige Theater in Epidaurus geschaffen hat. Wo die Zuschauer von jedem beliebigen Platz jedes ausgesprochene Wort deutlich hören konnten. Weil das Theater das Ohr der Welt ist, was dort gesagt wird, muss überall erschallen. Das Amphitheater hat seine spezielle Gesetzmäßigkeit, es ist ein Theater ohne Vorhang. Was besagt, dass es dort keine Täuschung gibt, selbst wenn einer lügt, alles liegt auf der Hand.

Ich beobachte jetzt zwei Menschen auf einer Bank in einem Trümmerhaufen. Eine Bank ist manchmal der einzige Ort, an dem man wenigstens für einen Augenblick verschnaufen kann, auch wenn ringsum bereits alles untergegangen ist. Es handelt sich natürlich um eine Bank in einem toten Park, in dem nicht einmal mehr die Wege zu erkennen sind. Diese Menschen, ein Mann und eine Frau, sehen gleichgültig aus. Weder haben sie etwas bei sich noch wissen sie, wohin. Sie sitzen nur dort, ein wenig abgestumpft.

Die einzige Frage: Soll man all das nochmal versuchen?

Das Geschehen spielt sich in einer nicht zu erkennenden ukrainischen Stadt ab, in der Pause zwischen zwei russischen Granatenhageln. In einer Szenografie, die dem Dekor eines neueren Theaterstücks gleicht. In dem es fast keinen Text gibt, weil der Mann der Frau nichts zu sagen hat, die Frau dem Mann nichts zu sagen hat. Sie sind schon ziemlich alt. Ihre Kinder, vielleicht Enkel, sind auf der Flucht in den Westen, mit einem ungewissen Schicksal, die beiden auf der Bank denken darüber vielleicht gar nicht nach. Denn selbst wenn es diesen Kindern gelingt, lebendig und gesund in bessere Verhältnisse zu gelangen, weiß man noch immer nicht, womit sie beginnen werden.

Die vier Millionen Menschen, deren Heime und deren Leben zerstört ist, die unverhofft aus ihren Häusern geworfen wurden, stellen das zufällige Publikum der Geschichte in einem allgemeinen Amphitheater der Ukraine dar. Die auf der Flucht vor dem Bösen, so scheint es, überlebt haben, obwohl das überhaupt nicht sicher ist. Denn gleichzeitig stellen sie das Schicksal aller Menschen auf der Erde dar, ohne Bescheinigung, wie es weitergeht.

Ihre Eltern auf jener Bank sind in die Lage der ersten Menschen der Geschichte geraten, die einzige Frage ist, ob sie all das noch einmal versuchen wollen. Auf jener Bank der unbekannten Stadt, im zerstörten Park, auf einem Kontinent des Planeten Erde, von dem der Dichter Jacques Prévert dachte, er sei ein Stern.
Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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