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Coming-of-Age auf einer Militärbasis : Verlaufen im Supermarkt Amerika

Luca Guadagninos Serie “We Are Who We Are” erzählt von den Identitätsverwirrungen einer Gruppe Jugendlicher auf einer US-Militärbasis in Italien.

Coming-of-Age auf einer Militärbasis : Verlaufen im Supermarkt Amerika

Fraser (Jack Dylan Grazer) und seine beste Freundin Caitlin (Jordan Kristine Seamón) wachsen auf Militärbasen auf.Foto: HBO/Yannis Drakoulidis

Das Leben könnte so einfach sein. “Die Supermärkte auf Militärbasen sehen überall auf der Welt gleich aus,” erklärt die 14-jährige Britney dem Neuankömmling Fraser beim Streifzug durch die Gänge. “Dieselben Produkte, dieselben Regale, immer an der derselben Stelle. Damit sich die Leute besser zurechtfinden.”

Ein bisschen Orientierung hätten auch die Teenager in Luca Guadagninos achtteiliger HBO-Serie “We Are Who We Are” nötig. Es sind Army-Kids, dort aufgewachsen, wo die Eltern (meistens die Väter) gerade stationiert sind.

Für Britney (Martin Scorseses Tochter Francesca) stellt der US-Truppenstützpunkt im italienischen Chioggia südlich von Venedig bereits die dritte Station dar, nach Deutschland und Südkorea. Fraser (Jack Dylan Grazer) ist dagegen gerade erst aus New York angekommen: ein “Fashion Victim”, wie einer der Soldatenväter einmal abfällig bemerkt, der mit seinen blondierten Haaren, Designer-XL-Shirts und Leoparden-Baggy-Pants schon modisch als Außenseiter zu erkennen ist. Und noch etwas unterscheidet Fraser von den anderen Kids: Er hat zwei Mütter.

Erzähler von Identitätssuchen

Der Italiener Guadagnino, der in Interviews zunehmend an den irren slowenischen Philosophen Slavoj Žižek erinnert, ist ein wunderbarer Erzähler von Identitätssuchen. In “I Am Love” von 2010 spielt Tilda Swinton eine russische Vorzeige-Ehefrau, die sich langsam vom rigiden Mailänder Familienimperium, in das sie eingeheiratet hat, emanzipiert. “Call Me by Your Name” erzählt eine queere Liebesgeschichte in einem magischen Sommer auf dem Land, in dem ein Pfirsich eine prominente Rolle spielt.

Und im Horror-Remake “Suspiria” muss eine junge Ballerina erkennen, dass sie als Anführerin eines jahrhundertealten Hexenkults auserwählt ist. So merkwürdig das klingt: Guadagninos euphorisierte, genderfluide Coming-of-Age-Serie “We Are Who We Are” fügt sich nahtlos in dieses idiosynkratische Gesamtwerk.

Frasers Mutter Sarah (Chloë Sevigny) wird als neue Kommandantin an den italienischen Stützpunkt versetzt, mit ihr soll eine andere Führungskultur einkehren. “Wir hatten zuletzt 20 Prügeleien, drei Vergewaltigungen und zwei Suizide”, gratuliert ihr Vorgänger zu dem Posten. “Das war unter ihrer Aufsicht”, lächelt Sarah und gibt ihm einen Kuss.

Ein Teenager-Drama ist keine lineare Erzählung

Als Mutter ist sie da weniger erfolgreich. Fraser tanzt ihr mit seinen zwanghaften Wutausbrüchen auf der Nase herum, ihre Streits enden schon mal liebevoll handgreiflich: Er gibt seiner Mutter eine Ohrfeige. Sarahs Partnerin Maggie (Alice Braga), eine Ärztin im Militärkrankenhaus, ist die Vertraute des Jungen, sie sammelt Fraser auch ein, wenn er sich nachts betrunken in Chioggia verirrt.

“Ich habe das Gefühl, jede Minute an diesem Ort stirbt ein kleiner Teil von mir”, wirft er seiner Mutter in einem nächtlichen Pubertätsdrama vor. Das Teenagerleben ist kein Supermarkt, schon gar nicht auf einer Militärbasis.

Luca Guadagnino ist ein Riesenglück für das Coming-of-Age-Genre – und für das Serienfernsehen. Er versteht, dass das Drama der Teenager-Existenz keine lineare Erzählung ist; dass es Freiheiten für Experimente benötigt und ein geradezu verschwenderisches Übermaß der Ressource Zeit, die nur das serielle Format einem Regisseur erlaubt. Die HBO-Serie “Euphoria” hat im vergangenen Jahr etwas Ähnliches geleistet, doch ihre Protagonist:innen waren bereits von Drogen und Sex beschädigte Jugendliche, die sich in ihrer Freiheit verloren.

Queere Codes in der Bibliothek

“We Are Who We Are” ist der Gegenentwurf: eine Feelgood-Serie, die die Freiräume der Jugend – trotz Eltern – auf jede nur erdenkliche Weise ausschöpft. Vor zwei Jahren veröffentlichte Ocean Vuong seinen sensationellen Debütroman “Auf Erden sind wir kurz grandios” über das Aufwachsen als queerer Vietnamese in Amerika. Der Titel beschreibt auch Guadagninos Serie perfekt.

Vuong ist eine von vielen Referenzen in “We Are Who We Are”. In der Bibliothek des Stützpunkts leiht sich Fraser einen frühen Gedichtband des Autors aus, in diesem Umfeld eine Art queerer Code. Als einzig anderer Vuong-Fan outet sich der junge Soldat Jonathan (Tom Mercier aus “Synonymes”), der Frasers Mutter unterstellt ist. Ihr wissender Blick mit Augenzwinkern spricht Gedichtbände.

Die andere wichtige Referenz ist Chloë Sevigny. Vor 25 Jahren debütierte sie in Larry Clarks Jugenddrama “Kids” über eine Gruppe emotional verwahrloster New Yorker Jugendlicher auf dem Höhepunkt der Aids-Epidemie. Der Film wurde damals für seine schockierende Nacktheit skandalisiert. In “We Are Who We Are” steht Sevigny nun auf der anderen Seite des Generationenkonflikts. Und die Nacktheit ist auch nicht mehr schockierend, sondern das, was sie schon damals war: tastend, unsicher, voller Versprechen.

Coming-of-Age auf einer Militärbasis : Verlaufen im Supermarkt Amerika

Britney (Francesca Scorsese, li.) und Caitlin (Jordan Kristine Seamón) beim Girl Talk in der Schulpause.Foto: HBO/Yannis Drakoulidis

Der leicht soziophobe Fraser findet zögerlich Zugang zu einer Gruppe Jugendlicher um das Nachbarsmädchen Caitlin (Jordan Kristine Seamón) und deren Bruder Danny (Spence Moore II). Die beiden durchleben gerade ihre eigenen Sinnkrisen: Caitlin schleicht gelegentlich in den Klamotten ihres Vaters in den Ort, Danny sucht Antworten im Koran.

Ihr Vater (der Rapper Kid Cudi, bürgerlich Scott Mescudi) lässt sich verbotenerweise rote “Make America Great Again”-Kappen in die Militärbasis liefern, es ist das Jahr 2016. Noch ahnt niemand, dass bald Donald Trump der Commander-in-Chief sein wird. Auch das Land befindet sich mitten in einer Identitätskrise. “My type, but not my kind”, meint Sarah einmal beim Anblick von Hillary Clinton auf Fox News.

Illegale Partys in russischen Villen

Die Frage, wie man sich als Jugendlicher im Supermarkt Amerika orientiert, in dem politische Überzeugungen und Begehren übersichtlich in Regalen wegsortiert werden, beantwortet “We Are Who We Are” mit einer ausladenden, überschwänglichen Laissez-faire-Haltung: abgehangene Nachmittage am Adria-Strand mit den örtlichen Jugendlichen, Einbruchspartys in russischen Villen (ein Großteil der vierten Folge) und viel Geknutsche.

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So viel wie in “We Are Who We Are” wurde vermutlich noch in keiner Miniserie geknutscht: quer durch alle professionellen und sozialen Hierarchien, die Erwachsenen untereinander, die Jugendlichen sowieso, Mädchen mit Jungen, Jungen mit Jungen, Frauen mit Frauen. Wobei Gender bei Guadagnino eine zunehmend unsichere Kategorie darstellt.

In einer Folge versucht Fraser Caitlin die Definition von Transgender zu erklären, aber eine 14-Jährige, die gerade ihre erste Periode bekommen hat, überfordern solche Zuschreibungen noch. Da helfen nur drastische Maßnahmen: Caitlin rasiert sich die Haare kurz.

Sensibilität für jugendliche Gefühlswelten

Man weiß gar nicht, wo man bei “We Are Who We Are” mit dem Schwärmen anfangen soll. Ist es der hypnotische Fluss der Bilder (oft einfach nur lange Plansequenzen) in den Szenen der Jugendlichen, der diese Unmittelbarkeit herstellt? Oder die traumwandlerisch mit den Erfahrungswelten seiner Figuren verwobene Playlist aus David Bowie, Young MA, Frank Ocean, Klaus Nomi und Blood Orange – der in der letzten Folge, in der Fraser und Caitlin zu einem Konzert ausbüchsen, sogar einen phänomenalen Cameo-Auftritt hat?

Eine Offenbarung ist Guadagninos Sensibilität für jugendliche Gefühlswelten, für ihre Vorlieben; die niemals übergriffige Intimität seiner Beobachtungen. Und wie selbstverständlich seine jungen Darsteller:innen Seamón, Scorsese, Moore sowie Faith Alabi als Caitlins Mutter (jede:r eine Entdeckung für sich) neben Stars wie Grazer, Sevigny, Braga und Mescudi agieren.

Das Pathos von Guadagninos Blick, der aus den offenen, manchmal auch verstockten Gesichtern der Jugendlichen auf das Publikum zurückfällt, evoziert das verschwommene Gefühl einer ersten Sommerliebe. Ein schöneres Kompliment kann man einer Coming-of-Age-Geschichte wohl kaum machen. (Sonntags auf Starzplay über Amazon Prime)

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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