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Chef des Zugherstellers Stadler im Interview : „Ich muss den SUV-Fahrer von der Bahn überzeugen“

Jure Mikolcic, Chef von Stadler in Pankow, über die neue U-Bahn für Berlin und die Perspektiven der Schienenindustrie überhaupt.

Chef des Zugherstellers Stadler im Interview : „Ich muss den SUV-Fahrer von der Bahn überzeugen“

In einer neuen Halle werden aktuell die S-Bahn-Wagen und demnächst die Berliner U-Bahn montiert. Stadler investiert rund 100…Foto: Stadler/promo

Herr Mikolcic, wie geht es voran mit der neuen Berliner U-Bahn?

Sehr gut. Die ersten Wagenkästen sind in der vergangenen Woche in einem unserer osteuropäischen Rohbau-Werke fertig lackiert worden und haben die Güteprüfung der BVG bestanden.

Was wird da geprüft?
Ein Mitarbeiter der BVG schaut vor Ort, ob alles genauso aussieht wie vereinbart, dazu gehört dann auch der Lack. Grundsätzlich hat die BVG einen sehr großen Erfahrungsschatz und tiefe Produktkenntnis, weil sie die Fahrzeuge selbst in ihren Werkstätten wartet und instand setzt.

Wenn die BVG-Leute die Wagenkarosserie abgesegnet haben, geht es weiter nach Berlin?
Genau. Per Lkw erfolgt der Transport nach Berlin, wo wir dann die Serienfahrzeuge in einer Fließfertigung ausbauen: An einer Seite der Halle kommt der Wagenkasten rein, auf der anderen Seite die komplette U-Bahn raus. Die Vorserie bauen wir zur Validierung der Arbeitsstände noch in einer klassischen Standmontage. Ende des Jahres sind die ersten Vorserienfahrzeuge fertig.

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Wie lange dauert dann die Testphase?
Nach der Montage in Pankow werden die Wagen in unserem Testzentrum in Velten in Betrieb gesetzt. Anschließend gehen sie für sechs Monate in das sogenannte Typtestprogramm. Die dabei entstehenden Unterlagen sind dann wiederum eine Entscheidungsgrundlage für die Zulassungsbehörde. Anschließend beginnt 2023 mit acht Fahrzeugen der Probebetrieb mit Fahrgästen bei der BVG, der mindestens drei Monate dauern wird.

Und von 2025 bis 2032 erfolgt dann die Auslieferung von bis zu 1500 Wagen?
So ist der Plan. Wir bauen jetzt erstmal eine so genannte Abrufmenge von 376 Wagen. Die sind Teil einer vertraglich vereinbarten Mindestbestellmenge von 606 Wagen und schließlich gibt es einen Rahmenvertrag über 1500 Wagen. Wie viel dann tatsächlich vom Kunden abgerufen wird, werden wir sehen. Dazu gibt es einen Ersatzteilversorgungsvertrag. Die BVG kümmert sich um die Instandhaltung und bekommt dafür von uns die Ersatzteile und die Produktunterlagen.

Scheint kompliziert zu sein.
Das ist es auch. Häufig übernehmen wir die Wartung und Instandhaltung der Züge. Bei der BVG ist das anders.

Chef des Zugherstellers Stadler im Interview : „Ich muss den SUV-Fahrer von der Bahn überzeugen“

Jure Mikolcic ist seit 2019 Chef der deutschen Stadler mit 1500 Mitarbeitern. Insgesamt beschäftigt das Schweizer Unternehmen 13…Foto: Christoph Edelhoff/promo

Der U-Bahn-Auftrag ist mit einem Volumen um die drei Milliarden Euro der größte in der 20-jährigen Geschichte des Pankower Stadler-Werks – und würde übertroffen von dem S-Bahn-Auftrag.
Das hängt davon ab, wie der dann ausgestaltet wird.

Das Bieterkonsortium aus Siemens, Stadler und der Deutsche Bahn ist Favorit.
Es gibt auch andere Bieter. Wir sind aber selbstverständlich von unserem Produkt überzeugt. Im Konsortium mit unserem Partner Siemens haben wir das Beste beider Häuser in einem Fahrzeug zusammengeführt, um gemeinsam den speziellen Anforderungen im Berliner Netz gerecht zu werden und S-Bahn-Ausfälle, wie es sie ja in der Vergangenheit häufiger gab, so gut wie möglich auszuschließen.

Wie ist die Aufgabenverteilung?
Elektrische Ausrüstung und Drehgestell stammen von Siemens und der gesamte Wagen inklusive Innenausbau kommt von uns. Weil wir uns damit auf die Konstruktion des Wagens konzentrieren können, haben wir den Wagenkasten technologisch optimiert und beispielsweise eine Klimaanlage eingebaut. Das gab es bislang nicht in einer Berliner S-Bahn.

Und alles funktioniert?
Die Testergebnisse sprechen für uns: Im Erprobungsbetrieb haben wir einen Wert von über 99 Prozent erreicht – es gibt also so gut wie keine Ausfälle.

Wer bewirbt sich noch für den Auftrag?
Das Berliner Netz ist groß, deshalb dürften viele Fahrzeughersteller dabei sein. Und dazu viele Betreiber. Im Laufe des Jahres werden die Angebote überprüft, und Ende 2022 sollte es dann die Entscheidung geben.

Gibt es ausreichend Kapazitäten in Pankow, um neben U-Bahnen, Straßenbahnen und elektrischen Regionalzügen auch noch mehr S-Bahnen in Berlin zu bauen?
Absolut. Für rund 100 Millionen Euro haben wir eine neue Montagehalle gebaut und ein neues Lager- und Logistikzentrum ist gerade in Bau.

Ausreichend Arbeitskräfte gibt es auch.
Ja.

Chef des Zugherstellers Stadler im Interview : „Ich muss den SUV-Fahrer von der Bahn überzeugen“

Die Berliner S-Bahn ist attraktiv für die Zughersteller ebenso wie die Betreiber des Verkehrs.Foto: imago images/Joko

Und wenn sich der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg nicht für das Stadler-Konsortium entscheidet?
Dann werden wir uns um andere Aufträge bemühen, wie wir das bislang auch tun. Aber der S-Bahn-Auftrag hat für uns als Standort schon auch eine herausragende Bedeutung. Wir bauen ja kein Fahrzeug für Shanghai oder Los Angeles. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fahren mit diesem Produkt zur Arbeit – ich auch. Es verbindet sich mit diesen S-Bahn-Wagen unternehmerischer Stolz.

Wie stark belasten die allerorten auftretenden Lieferprobleme und steigenden Rohstoffpreise das Geschäft?
Wir habe alle diese Probleme. Das beginnt mit See-Containern, die irgendwo festliegen, sodass unseren Lieferanten Teile fehlen. Dazu gibt es Zulieferer, bei denen mehr als ein Drittel der Belegschaft wegen Corona ausfällt. Klimaanlagen für eines unserer Projekte kommen von einer Firma aus Spanien. Die war 2021 für Wochen komplett dicht.

Wie funktioniert dann die Fließfertigung?
Man kann zum Beispiel mit Dummys arbeiten. Wenn etwa die Führerstandtür fehlt, baue ich erstmal eine aus Holz ein. Der Wagen geht dann durch alle Stufen in der Halle, und die Tür wird nachträglich montiert. Aber es gibt auch Projekte, bei denen uns der Verzug von Teilen richtig wehgetan hat und wir nur mit Verzögerung ausliefern konnten.

Werden Lieferabhängigkeit und eigene Wertschöpfung aufgrund der Erfahrungen überdacht?
Wir haben eine sehr hohe Wertschöpfungstiefe und kaufen etwa 75 Prozent unserer Vorprodukte in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein. Das hat uns eine gewisse Stabilität der Lieferkette ermöglicht.

Was ist mit den berüchtigten elektronischen Bauteilen?
Die fehlen uns auch, vor allem für die Fahrgastinformationssysteme, die Elektronik brauchen. Natürlich benötigen wir nicht so viele Steuerungsteile wie die Autoindustrie, aber wir kaufen alle bei den gleichen Lieferanten. Auch Gussteile sind derzeit schwer zu bekommen.

Alle Welt betont die Klimafreundlichkeit des Schienenverkehrs, hierzulande gibt der Bund in diesem Jahr erstmals mehr Geld für die Schiene aus als für die Straße. Macht sich das schon im Orderbuch bemerkbar?
Wir merken schon, dass ein anderer Wind weht. Bis 2030 will die neue Bundesregierung zum Beispiel 75 Prozent der Strecken elektrifizieren. Akku-Fahrzeuge und Wasserstoffantriebe werden zunehmend gefragt. Das ist gut für uns, denn bei Batteriezügen sind wir Marktführer. Schleswig-Holstein zum Beispiel hat ein Netz technologieoffen ausgeschrieben, und wir haben mit unseren Batteriezügen gewonnen, weil das Akku- Fahrzeug am geeignetsten ist. Unser Vorteil ist ja, dass wir maßgeschneiderte Lösungen anbieten für die jeweiligen Kundenbedürfnisse.

Ist die Batterie im Zug sinnvoller als die Brennstoffzelle?

Es hängt von den Anforderungen ab. Für beide Technologien gibt es viel Potenzial. In vielen Ballungsgebieten wird mit Diesel gefahren, obwohl es in diesen Verkehrsknoten Oberleitungen gibt. Aber weil der Zug dann ins nicht elektrifizierte Umland fährt, setzt man Diesel ein. Das ist natürlich nicht mehr sinnvoll. Hier ist das Akku-Fahrzeug am besten geeignet.

Und am wirtschaftlichsten?
Ein Fahrzeug ist rund 30 Jahre unterwegs, die Batterie muss aber nach acht, spätestens zehn Jahren ausgewechselt werden. Das ist aufwändig. Im Moment zeichnen sich große Entwicklungssprünge bei der Batterie ab. Wenn die Batterie 15 Jahre hält, habe ich nur einen Batterietausch. Das wäre ein großer Fortschritt.

Das wird jedoch nicht ausreichen, um mehr Leute in die Bahn zu locken.
Der öffentliche Personenverkehr steht vor großen Veränderungen. Andere Takte, anderer Komfort. Ich muss den SUV-Fahrer überzeugen, mein Produkt zu nutzen. Bequem sitzen, telefonieren und guter Internetempfang sind künftig Standard. Aber wir müssen auch immer eine Antwort finden auf eine ganz schwierige Frage: Wie halte ich das Produkt über einen Lebenszyklus von 30 Jahren modern?

Und wie? Was zeichnet die neue Berliner U-Bahn aus, sodass die Leute auch 2050 gerne damit fahren?
Der Komfort für den Fahrgast wird sich mit der neuen Bahn signifikant verändern. Wenn die Monitore an der Seite montiert sind und keine Barrieren und Sichtblenden mehr stören, haben wir einen offenen Fahrgastraum. Die Sitzanordnung ist anders, es gibt Sitze für besonders große und besonders kleine Menschen. Die Fenster sind größer, Raumgefühl und Beleuchtung großzügiger.

Wer hat den Wagen entwickelt?
Wir entwickeln das Fahrzeug und prüfen dann gemeinsam mit dem Kunden sowie zum Beispiel Fahrgastverbänden und Schwerbehindertenverbänden, ob alles so ist wie es sein soll: Wie positioniert man Haltestangen, wie komme ich am besten mit Rollstuhl und Kinderwagen rein und raus, wie muss die Beleuchtung angebracht sein, damit Menschen mit Sehbehinderung beim Ein- und Aussteigen unterstützt werden. Alles in allem haben wir einen Quantensprung erreicht mit der neuen U-Bahn.

In Wustermark hat Stadler gerade eben ein Gelände gekauft – was passiert dort?
Wir stehen aktuell in den finalen Gesprächen zum Kauf. Wir planen, dort ein Inbetriebsetzungszentrum zu errichten, weil wir in Velten an die Kapazitätsgrenzen stoßen. Bis zu 125 Wagen wollen wir dort abschließend jährlich in Betrieb setzen. Velten würde sich dann komplett um Service kümmern, weil wir auch in diesem Bereich wachsen. In Schönwalde-Glien, in einem ehemaligen Coca-Cola- Werk, haben wir ein Drehgestell-Zentrum aufgebaut, wo wir die Achsen bis auf die letzte Schraube zerlegen können. Wir überlegen derzeit, ob wir dort die Drehgestelle für die Berliner U-Bahn montieren. Alles in allem sind wir also ein Schienenfahrzeughersteller, der stark regionalisiert.

Und von der Verkehrswende profitiert.
Es ist eine großartige Branche, mit einer tollen Technologie. Es passiert gerade so viel, dass die Schienenfahrzeugindustrie für junge Ingenieurinnen und Ingenieure ein erstklassiges Betätigungsfeld ist. Die deutschen Hersteller, und da schließe ich die Wettbewerber ein, sind Technologieführer. Wenn wir diese Karte gemeinsam mit der Politik geschickt spielen, dann können wir noch sehr viel erreichen hinsichtlich Mobilitätswende und klimaverträglichem, komfortablen Verkehr.

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Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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