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„Atlantis“ von Kreisky : Einmal Galle mit Herz, bitte!

Zwischen Banalität und Tiefgang: Die Band Kreisky veröffentlicht mit „Atlantis“ ein tolles Album. Aus Grantlern werden Zeremonienmeister der Selbstermächtigung.

„Atlantis“ von Kreisky : Einmal Galle mit Herz, bitte!

Die Band Kreisky.Foto: Ingo Pertramer

Es ist naheliegend, dass der Mensch in einer kaputten und durchseuchten Welt zuweilen die Flucht in den Mythos antritt. Und weil manche Österreicher das eigene Land als noch kaputter und durchseuchter wahrnehmen, entstanden gerade hier bunt ausgepinselte Eskapismus-Fantasien. Irgendwer taufte das mal Austro-Futurismus. Die Gruppe Ja, Panik wich in das utopische „Libertatia“ aus, Kreisky finden nun ihr Exil in „Atlantis“. Jenem sagenumwobenen, versunkenen Inselreich, das Menschen schon zu Platons Zeiten Rätsel aufgab.

Es ist bereits das sechste Album der Wiener Band, die unverständlicher Weise nie so ganz aus dem Schatten von Weggefährten wie Bilderbuch oder Wanda treten konnte – oder wollte. Anfang 2005 gründeten Franz Adrian Wenzl und Martin Offenhuber die vierköpfige Formation, die sich nach dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky benannte.

Schon damals betonte man explizit, sich von der „Schundstufe der Hamburger Schule“ um Blumfeld und Tocotronic abzusetzen. Statt in schwülstigen Bildern über schrammelige Klänge zu dichten, traten sie zackig und zeternd auf. Demonstrierten ab dem ersten Album, dass die Wut bei Kreisky noch nicht sublimiert ist, sie Dissonanzen stets falschen Harmonien vorziehen.

Giftiger Sarkasmus mit Wiener Schmäh

Es wundert also nicht, dass die Band 2017 in Sibylle Bergs Stück „Viel gut essen“ auf der Bühne stand, das sie gemeinsam mit der Autorin adaptierte. Bühnen können derzeit aus bekannten Gründen weiterhin nicht besucht werden. Doch die auf „Atlantis“ gebannte Rotzigkeit und Spielfreunde lässt zumindest erahnen, warum Menschen früher gerne zu diesen sogenannten Liveveranstaltungen gegangen sind.

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Dabei ist die von Kreisky vorab veröffentlichte, vollkommen überdrehte Single „ADHS“ irreführend. Textlich wird darin über stampfige Industrialbeats und AC/DC-Gedächtnis-Riffs ein Nachbarschaftsstreit auf eine neurobiologische Störung reduziert.

Das Stimmungsbild der anderen sieben Songs von „Atlantis“ ist aber noch immer von Postpunk-Gitarren geprägt, die einen mal schnarrig-kratzig anraunzen, im nächsten Augenblick aber wieder melodisch-hallend einlullen. Stabilität bietet dabei das Fundament einer Rhythmusfraktion, deren stoische Lässigkeit offensichtlich dem Krautrock entlehnt wurde. Und auch über die dominanten Synthesizer funktioniert Wenzls giftiger Sarkasmus im Wiener Schmäh vorzüglich.

„Atlantis“ von Kreisky : Einmal Galle mit Herz, bitte!

Das Albumcover von “Atlantis”.Foto: Ingo Pertramer

Dabei, so gesteht die Band, sollte die Galle diesmal vom Herz gezügelt werden. „Atlantis“ stehe für die Suche nach dem verschollenen Jugendidealismus. „Dieses Album ist für mich ein Plädoyer für das Aufeinander-Zugehen, die Offenheit wiederzuentdecken. Es ist eine Forschungsarbeit in einem selbst“, sagt Wenzl über die acht vertonten Kurzgeschichten.

Ein Ode an die Kraft des „Nein“

Kreisky hielten schon immer eine vortreffliche Balance zwischen Reflexion und Blödsinn, zwischen Tiefgang und Banalität. „Lonely Planet“ berichtet von den ersten jugendlichen Ausbruchsversuchen in die große, weite Welt. In „Kilometerweit Weizen“ wird die Angst vor Mähdreschern zu einem Symbolbild für das Stadt-Land-Dilemma. Und das musikalisch an The Clash erinnernde „Ein Fall fürs Jugendamt“ berichtet vom Alltag im Prekariat.

Ganz am Ende steht dann einer der vorläufigen Höhepunkte des noch so jungen Popjahres. „Wenn einer sagt“ ist ein von einer voluminösen Orgel (dem Instrument des Jahres!) getragenes Stück, das einem schon beim ersten Hören die Beine wegzieht: „Und wenn einer sagt: Mach es wie wir, so machen es die meisten / Sag: Nein, das kann und das will ich mir nicht leisten.“ Eine beinahe sakrale Hymne an die Individualität. Ein Ode an die Kraft des „Nein“.

Im Infotext zum Album werden Kreisky noch als „Großmeister des Grant” geadelt. Dabei ist „Atlantis“ vielmehr das Zeugnis einer Metamorphose, hin zu Zeremonienmeistern der Selbstermächtigung. Deren Melodien uns auf dem Weg zum Meeresgrund noch lange nachhallen werden.

Eine Quelle: www.tagesspiegel.de

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